- Es gibt bereits Medikamente gegen Diabetes, Infarkte oder Bluthochdruck, die auf den Giften von Schlangen und Echsen beruhen.
- Auch Meeresschnecken, Korallen oder Seeanemonen haben grosses Potenzial, potente Wirkstoffe zu liefern – beispielsweise gegen Krebs.
- Die Produktion ist jedoch schwierig, denn auf die Gifttiere kann man dabei nicht verzichten.
Der Biss der Jararaca-Lanzenotter tut in erster Linie sehr weh. Dann entfaltet das Gift seine Wirkung. Die betroffene Stelle schwillt an, Gewebe kann absterben – und vor allem: die Blutgerinnung wird gestört, indem sich rote Blutkörperchen zersetzen. Nicht verheilte Wunden und die Bissstelle beginnen stark zu bluten, in den schlimmsten Fällen auch Organe oder sogar Stellen im Gehirn. Der Blutdruck fällt ab, die Opfer werden bewusstlos.
Kleinere Opfer verschlingt die Schlange dann Kopf voran. Der Mensch ist für die nur einen Meter lange Schlange als Mahlzeit zwar ungeeignet, aber für den Einzelnen ist ihr giftiger Biss dennoch extrem unangenehm, für etwa ein Prozent der Gebissenen sogar fatal – für die Medizin ist er jedoch ein Segen.
Sogar von einem Gift, das man seit langer Zeit untersucht, kennt man kaum zehn Prozent seiner medizinischen Auswirkungen.
Denn das Gift der Jararaca-Lanzenotter dient seit den 1960er-Jahren als Vorlage für ACE-Hemmer gegen Bluthochdruck. Auch die blutverdünnende Wirkung des Gifts wird medizinisch genutzt. Grubenottern, zu denen auch die Jararaca-Lanzenottern zählen, sind medizinisch gesehen eine wahre Fundgrube.
Kaum eine andere Art produziert ein derart komplexes Giftgemisch: Pro Gift einer Art lassen sich bis zu 300 verschiedene Toxine isolieren. «Sogar von einem Gift, das man seit langer Zeit untersucht, kennt man kaum zehn Prozent seiner medizinischen Auswirkungen», sagt Nicolas Gilles, Projektkoordinator bei Venomics, einem europäischen Projekt zur Erfassung von Giften in einer Datenbank.
Perfekt komponierte Gifte
Die Erforschung von Tiergiften im Dienste der Medizin ist keine Marotte exzentrischer Forscher. Vielmehr macht sich die Wissenschaft die Vorarbeit der Evolution zunutze: Die Tiere haben sich mit ihrem Gift über Jahrtausende perfekt an bestimmte Rezeptoren ihrer Opfer angepasst – je nachdem, wie die Tiere ihre Beute am liebsten fressen: gelähmt, ohnmächtig oder sogar tot.
Gelingt es, aus der Vielzahl der Toxine einzelne Peptide, also kleine Eiweisse, zu isolieren, kann man sie medizinisch nutzen: Im Giftmix der Krustenechse beispielsweise regt ein Bestandteil die Insulinausschüttung an – ein Effekt, der nun mit dem Medikament «Byetta» Typ-2-Diabetikern zugutekommt. Fast eine Milliarde Franken hat das Medikament bereits in die Kassen des Herstellers Astra Zeneca gespült.
Mit Schlangen und Schnecken gegen Schmerzen und Herzinfarkt
Für zwei andere Wirkstoffe, die zur Blutgerinnung sowie Herzinfarkt- und Thromboseprophylaxe zum Einsatz kommen, standen Klapperschlangen und Sandrasselottern Pate. Einer im Wasser lebenden Kegelschneckenart verdanken wir ein komplexes Schmerzmittel.
Zu anderen Giften laufen Studien. US-Forscher beispielsweise prüfen, ob sich das Seeanemonen-Gift gegen Übergewicht einsetzen lässt. Französische Forscher haben herausgefunden, dass das Gift der schwarzen Mamba in der richtigen Dosis stark schmerzlindernd wirken kann. Das Gift des gelben Mittelmeerskorpions könnte Chirurgen die Arbeit erleichtern, indem sich mit seiner Hilfe Hirntumore farblich markieren lassen.
Die Herausforderung besteht darin, Dosierungen zu finden, bei welchen das Gift seine Wirkung entfalten kann, ohne Nebenwirkungen zu produzieren.
Und die tropische Koralle schickte im Labor Krebszellen in den Selbstmord. Ihr Gift wirkte um ein Vielfaches toxischer auf Krebszellen als gängige Chemotherapien, dabei aber schonender für gesunde Zellen. «Die Herausforderung besteht darin, Dosierungen zu finden, bei welchen das Gift seine Wirkung entfalten kann, ohne Nebenwirkungen zu produzieren», sagt Anthony Gonçalves, Krebsforscher am Institut Paoli-Calmettes in Marseille.
Für die Produktion braucht es Spezialisten
Einen leichten Stand in der Forschung haben die Tiergifte allerdings nicht. Eine Studie aus dem Jahr 2013 zeigt, dass gut die Hälfte der für klinische Tests zugelassenen Gifte im Versuch am Menschen an einer mangelhaften Wirksamkeit scheiterten, zu 28 Prozent waren Sicherheitsbedenken zu gross, zwölf Prozent kamen wegen strategischer oder kommerzieller Fragen nie zur Zulassung. Nur für zehn Prozent der getesteten Wirkstoffe gab die US-Arzneimittelbehörde FDA schliesslich grünes Licht.
Zwar können die Gifte synthetisch nachgebaut werden, doch bis dahin müssen erst einmal ausreichende Mengen tierischer Herkunft gewonnen werden – ein heikles Thema, denn einige der medizinisch interessanten Gifttiere unterliegen dem Artenschutz, weil sie vom Aussterben bedroht sind. Das Problem: Die natürlichen extrahierten Moleküle sind effizienter als künstliche.
Gift ist Gold wert
In der Gewinnung der heilsamen Gifte kann man – zumindest im ersten Schritt – nicht auf die Gifttiere verzichten, auch wenn die Produktion es mitunter in sich hat: Während die Diamant-Klapperschlange auf einmal 500 Milligramm Gift abgibt, ist die Ausbeute bei kleinen Spinnen so minimal, dass allein für ein Milligramm viele Melkdurchgänge erforderlich sind. Mit Gold sind die Tiergifte kaum aufzuwiegen: Manche kosten zwischen 100’000 Franken und einer Million Franken – für ein Gramm.