Zum Inhalt springen

Header

Video
Pauli: «Eltern können die Gefühle oft nicht nachvollziehen»
Aus 10 vor 10 vom 04.10.2017.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 48 Sekunden.
Inhalt

Jugendliche Transgender Wenn es sich falsch anfühlt, wenn Brüste wachsen

Kinderpsychiaterin Dagmar Pauli erklärt im Gespräch, wie Jugendliche entdecken, dass sie Transmenschen sind.

SRF News: Dagmar Pauli, in welchem Alter merkt man, dass der eigene Körper nicht zur Identität passt?

Dagmar Pauli: Transmenschen sind sehr verschieden, so ist es auch bei Kindern. Manche merken bereits mit drei oder vier, dass sie ein Mädchen sind, auch wenn sie als Junge zugewiesen wurden oder umgekehrt. Bei anderen ist es mehr so ein diffuses Gefühl von anders sein: Sie fühlen sich nicht wohl, wissen aber nicht, woran das liegt. Später – im Jugend- oder Erwachsenenalter – kommt dann vielleicht das Bewusstsein und das Outing.

Viele bekommen das Bewusstsein in der Pubertät. Warum genau dann?

In der Pubertät wird Jugendlichen viel bewusst. Die Geschlechtsmerkmale und der Körper entwickeln sich. Für viele ist es eine sehr schwierige Phase, weil sie die Entwicklung stark ablehnen. Es fühlt sich für sie total falsch an, wenn die Brüste wachsen, der Bart spriesst oder der Stimmbruch kommt. Es gibt viele, die an sich zweifeln, depressiv werden oder nicht mehr weiterleben wollen.

Das ist eine grosse psychische Belastung nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Eltern.

Eltern können die Gefühle oft nicht nachvollziehen. Viele machen sich grosse Sorgen, wie es rauskommt oder fragen sich, ob es die richtige Entscheidung ist, wenn sich Jugendliche als Transmenschen outen. Ich verstehe alle Eltern, die vorsichtig sind und Mühe damit haben. Es braucht Zeit, das Bild vom eigenen Kind loszulassen. Das ist kein einfacher Prozess.

Welche Möglichkeiten haben Transkinder?

Das ist sehr individuell. Im frühen Jugendalter gibt es die Möglichkeit einer hormonellen Pubertätsblockade. Die Behandlung ist umkehrbar und nicht definitiv. Dadurch gewinnt man Zeit, kann sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und muss sich nicht sofort definitiv entscheiden.

Ist eine Operation, also eine Geschlechtsangleichung, für alle die Lösung des Konflikts zwischen Identität und Körper?

Transmenschen sind sehr verschieden, auch bezüglich ihrer Identität und ihrer Wünsche. Es gibt viele Junge, die sagen, sie möchten keine oder nur ein Teil der Behandlung, auch wenn sie sich als Transmensch fühlen.

Die Gesellschaft muss also lernen mit diesen Nuancen zu leben?

Das ist ohnehin so. Wir müssen wegkommen von den einengenden Geschlechtskategorien. Transmenschen geraten dadurch unter Druck. Sie denken, dass sie alle Klischees erfüllen müssen, um ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu sein. Wenn wir von den aktuellen Kategorien wegkommen, gibt das eine riesige Erleichterung. Transmenschen denken dann nicht mehr, dass sie alle Behandlungen machen müssen, die zum perfekten männlichen oder weiblichen Aussehen gehören.

Das Gespräch führte Arthur Honegger.

Video
Transfrau erzählt vom Leben vor und nach der Operation
Aus 10 vor 10 vom 04.10.2017.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 59 Sekunden.

Geboren im falschen Körper – das ist auch das Schicksal von Stefanie Hetjens. Aber für sie war immer klar: «Ich bin eine Frau. Nur die Menschen um mich herum haben halt gedacht, ich sein ein Mann, weil ich so aussehe.» Deshalb sei das einzige, was sie angepasst habe, ihr Äusseres. «Ich habe nicht mein Geschlecht gewechselt, sondern mein Aussehen an mein Gefühl angepasst», erzählt die 34-Jährige gegenüber «10vor10».

Bis ins Alter von 29 lebte Hetjens als Mann. Obwohl sie bereits im Kleinkindalter spürte, dass dies für sie nicht passt. «Deshalb habe ich mir Verhaltensarten angelernt, um zu verbergen, dass ich eine Frau bin.»

«Hinter dem eigenen Gefühl stehen»

Bis vor fünf Jahren hat Hetjens ihre Gefühle verdrängt. Unterdessen machte sie Karriere in der Werbebranche und lebte in einer Partnerschaft – bis sie es nicht mehr aushielt.

Video
Stefanie Hetjens: «Mein Gefühl ist korrekt»
Aus News-Clip vom 02.10.2017.
abspielen. Laufzeit 19 Sekunden.

«Das allererste, das man machen muss, ist ein Coming-out zu einem selber. Man muss dahinterstehen können, dass das eigene Gefühl korrekt ist.» Nach dem sie das geschafft hatte, öffnete sie sich gegenüber Freunden und der Familie.

Ein Outing ist für viele undenkbar

Seit ihrer Geschlechtsangleichung, der Transition, engagiert sich Hetjens politisch. Heute ist sie Co-Präsidentin des Dachverbandes Schweizer Transmenschen, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Die Gemeinschaft wächst stetig: In diesem Jahr fanden im September 150 Transmenschen den Weg zur 5. Tagung in Sursee, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen.

Hetjens nimmt selber jedes Jahr an der Tagung teil. Es sei ein guter Ort, um sich auszutauschen und den Leuten zu helfen, ihren Weg zu gehen. In einem der zahlreichen Workshops an diesem Wochenende erzählt Hetjens, was es beim Outing am Arbeitsplatz zu bedenken gilt.

Video
Stefanie Hetjens: «Es ist euer Coming-out»
Aus News-Clip vom 02.10.2017.
abspielen. Laufzeit 13 Sekunden.

«Es ist euer Coming-out. Es ist nicht das vom Unternehmen. Ihr habt viel Macht, das zu gestalten. Überlegt euch, macht euch einen Plan», rät sie den vielen Teilnehmenden. Für viele ist allerdings schon der Weg an die Tagung ein Riesenschritt – ein Outing in der Öffentlichkeit undenkbar.

«Ich stehe mitten im Leben»

Vor dem Gesetz sollten alle Menschen gleich sein – so steht es in der Bundesverfassung. Weder Staat noch Arbeitgeber dürfen Menschen wegen ihres Geschlechts diskriminieren. Dennoch, für Transmenschen kann der Schritt an die Öffentlichkeit auch im Berufsleben heikel sein.

«Wenn etwas schiefläuft beim Coming-out und man vielleicht seinen Job verliert oder man vielleicht gar keinen Job mehr findet, ist das natürlich ein grosser Einschnitt ins Leben und damit ein wichtiger Punkt in der Transition», weiss Hetjens.

Als Beratungsleiterin in einer Agentur lebt sie aber vor, wie es gelingen kann und macht klar: für sie selber bedeutet die Anpassung alles. Für das Umfeld hingegen ändere sich fast gar nichts, ist sie überzeugt. Und Hetjens kann heute sagen: «Jetzt bin ich glücklich. Ich weiss, wer ich bin und was ich bin. Ich stehe mitten im Leben.»

Begriffserklärung

Transgender
Transgender ist der Oberbegriff für alle Transmenschen. Er wird auch verwendet für Menschen, für deren Geschlechtsidentität das Zweigeschlechtermodell nicht ausreicht, die sich also nicht nur als Mann und nicht nur als Frau fühlen sowie für Transmenschen, die keine oder nicht alle medizinischen Massnahmen wünschen.
Transfrau

Mensch, der mit dem Körper eines Knaben geboren wurde, sich aber als Frau identifiziert.
Transmann
Mensch, der mit einem biologisch weiblichen Körper geboren wurde, sich aber als Mann identifiziert.
Transvestit / CrossdresserPerson, die sich zeitweise entsprechend der Rolle, die nicht ihrem Geburtsgeschlecht entspricht, kleidet. Transvestiten leben meistens in der Rolle ihres biologischen Geschlechts. Transvestitismus ist unabhängig von der sexuellen Orientierung und kommt sowohl unter Heterosexuellen als auch unter Homosexuellen vor.

Sechs Fragen zu Transgender

Hat Transgender etwas mit Sexualität zu tun?
Nein, Transgender hat nichts mit Sexualität oder der sexuellen Orientierung zu tun.
Wie viele Transmenschen leben in der Schweiz?
Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Forscher gehen davon aus, dass einer von 200 Mensch ein Transgender ist. Das wären in der Schweiz etwa 40'000 Menschen. Andere zählen lediglich Menschen, die eine geschlechtsangleichende Operation machen. Das sind in der Schweiz ein paar Hundert.
Kann man seinen Vornamen ändern lassen?
Ausser beim amtlichen Verkehr ist es in der Schweiz erlaubt, einen selbstgewählten Vornamen zu nutzen. Zudem kann jeder eine Namensänderung beantragen. Die Voraussetzungen und die Kosten sind je nach Kanton unterschiedlich.
Kann man sein amtliches Geschlecht ändern?
Um das amtliche Geschlecht zu ändern, muss man beim erstinstanzlichen Zivilgericht eine Klage einreichen. Die Voraussetzungen und die Kosten sind je nach Kanton unterschiedlich.
Werden Transpersonen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert?
Transgender sind häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt der Menschen. In der Schweiz liegt die Arbeitslosenquote bei Transmenschen bei rund 20 Prozent.
Ist Transgender eine Krankheit?
In den beiden wichtigsten internationalen Klassifikationen der Krankheiten wird «Transsexualität» als «Geschlechtsidentitätsstörung» (ICD-10) bzw. «Geschlechtsdysphorie» (DSM-V) bezeichnet. Dies dürfte sich aber mit den laufenden Revisionen der jüngst verabschiedeten Version 7 der Behandlungsrichtlinien, der «World Professional Association for Transgender Health» (WPATH) ändern.

Quelle: Transgender Network Switzerland
, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen


, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen

Dagmar Pauli

Box aufklappen Box zuklappen
Dagmar Pauli

Dagmar Pauli ist Chefärztin und stellvertretende ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Universität Zürich. Ihre Schwerpunkte sind die Familientherapie mit Kindern und Jugendlichen, die Behandlung von Jugendlichen mit Essstörungen, Depressionen und Selbstverletzungen sowie das Notfallmanagement.

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel