Die bösen Seiten des Menschen sind manchmal auch einfach die verzweifelten und kranken Seiten. Das hat Anneliese Ermer in ihren 25 Jahren als Gerichtspsychiaterin immer wieder erfahren. Sie ist seit zwei Jahren pensioniert, schreibt aber weiter Gutachten. Zuletzt war sie Professorin für Gerichtspsychiatrie und Leiterin des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes der Universität Bern.
Die Gesellschaft und der Umgang mit «Nullrisiko»
Kann jeder zum Mörder werden? Diese Frage wird Anneliese Ermer immer wieder gestellt. Oder: Wie kann sie sich mit einem Sexualstraftäter abgeben? Diese Fragen oder auch der Erfolg der Verwahrungsinitiative zeigen: Die Gesellschaft tut sich schwer im Umgang mit psychisch kranken Tätern.
Die Grenze zu ziehen zwischen der Freiheit und dem Risiko, dass ein Täter rückfällig wird – das ist auch für die erfahrene Gerichtspsychiaterin schwierig. Aber einfach alle wegsperren? «Nein», sagt sie, «auch wenn die Gesellschaft immer weniger bereit ist, jemanden in Freiheit zu erproben».
Wie entsteht ein Gutachten?
Die Menschen, die Anneliese Ermer begutachtet, werden von Gerichten zu ihr geschickt. Sie sind einer Tat verdächtigt, möglicherweise aber psychisch krank. Sie haben die Tat vielleicht in einem Wahn begangen – oder sind auf eine andere Weise nicht voll verantwortlich.
Die Aufgabe der Gerichtspsychiatrie ist es, zu klären, wie psychisch krank ein Täter – oder gelegentlich auch eine Täterin – wirklich ist. In diesen Einschätzungen ist Anneliese Ermer mit der Erfahrung sicherer geworden, aber noch immer ist es ein innerer Prozess, der sie auch manchmal mitten in der Nacht aufwachen lässt. Eigene Fehlurteile will sie in der Zeit nicht ausschliessen, aber die waren jedenfalls nicht so gross, dass sie deswegen Schwierigkeiten bekommen oder auch nur davon gehört hätte. «Und ja», sagt sie, «ich glaube noch ans Gute im Menschen».
Anneliese Ermer war vom 14. bis 18. Juli 2014 Gast im «Rendez-vous». Die fünf Gespräche: