Vor der Pforte der Schweizer Kirche in London haben sich einige Gestalten mit struppigen Haaren eingefunden. «Der Herr hütet die Fremden», steht an einer Wand des klassizistischen Gebäudes in Covent Garden. Der Psalm mag stimmen, doch heute werden die Fremden in erster Linie gepflegt.
Jeden Monat verwandelt sich die Schweizer Kirche in einen Coiffeur-Salon. Jake Fox, der normalerweise in einem edlen Geschäft gleich um die Ecke gutbetuchte Kundschaft frisiert, kommt mit seinen Scheren und Kämmen in die Kirche und schneidet unentgeltlich die Haare von Obdachlosen. Einer von ihnen ist der 42-jährige Future, der gerade auf dem Coiffeur-Stuhl sitzt. Das Leben auf der Strasse sei hart. Es gebe gute und schlechte Tage.
Ein schlechter Tag sei, wenn man kein Geld habe und nicht in einen Laden gehen könne, um sich etwas zum Essen zu kaufen und es deshalb stehlen müsse. «Gott möge mir verzeihen, denn ich bin kein unaufrichtiger Mensch, aber das Leben zwingt uns gelegentlich unaufrichtige Dinge zu tun», sagt der Obdachlose und blickt verschämt zum Gewölbe der grossen, lichtdurchfluteten Kirche empor.
Heute könnte ein guter Tag werden. Während Jake die schwarzen gelockten Haare von Future schneidet, reden sie zusammen über Fussball, Covid und das Wetter. So wie man das beim Coiffeur eben tut. Er arbeite gerne hier, sagt Jake. Er gebe hier nicht nur, sondern bekomme auch viel, meint der Coiffeur, während er Future behutsam die Augenbrauen stutzt.
«Ich schneide normalerweise die Haare von Leuten, die als Künstler arbeiten, oder als Richterinnen oder Ärzte. Aber auf seinen sozialen Status sollte man sich nicht zu viel einbilden, denn viele Leute sind nur eine Gehaltsabrechnung davon entfernt, selber obdachlos zu sein.» Das habe er von den Menschen gelernt, denen er hier in der Kirche die Haare schneidet. Der Weg von oben nach unten sei in London kürzer als man denkt. «Sobald man den Job verliert, das Lohnkonto leer ist und jegliche Unterstützung wegfällt, bist du auf der Strasse.»
Schweizer Kirche bietet besondere Dienste an
Gemäss Sozialstatistik leben in England rund 300'000 Menschen auf der Strasse. Viele Hilfsorganisationen unterstützen sie mit Wolldecken, Kleidern oder warmen Mahlzeiten. Ein Frühstück und einen unentgeltlichen Haarschnitt gebe es jedoch nur in der Schweizer Kirche, versichert die obdachlose Kundschaft, die sich heute in der Endell Street eingefunden hat.
Beten müsse dafür niemand, sagt Carla Maurer, die Pfarrerin der Schweizer Kirchgemeinde in London. Und bewusst empfange man die Leute nicht irgendwo im Souterrain, sondern im Kirchenraum.
«Jeder, der hier reinkommt, staunt zuerst einmal. Selbst Menschen, die mit der Kirche nicht viel am Hut haben, spüren hier eine spirituelle Empfindung.» Die Gemeinde bereite das Frühstück für die Obdachlosen immer in der Kirchenhalle vor.
Es sei eben ein Irrtum zu glauben, Obdachlose seien gerne verwahrlost, erklärt Future. Er ist mittlerweile frisch frisiert, rasiert und sitzt mit einer Tasse Kaffee vor dem Altar. Der Mensch lebe nicht vom Brot allein.
«Sich wieder frisch fühlen, das Gefühl haben, man sei wieder jemand – das tut doch einfach gut. Dazu auf Menschen treffen, die mit den gleichen Zumutungen des Lebens kämpfen müssen.» Es sei ein warmes Gefühl ganz tief drinnen. Er könne es auch nicht näher beschreiben. «Was immer es ist, der Besuch beim Coiffeur in der Schweizer Kirche tut gut. Es ist ruhig, friedlich, entspannend – schön.»
Future und seine Kollegen bestaunen sich noch einmal im Spiegel. Heute ist ein guter Tag. Die frisch frisierten Menschen lächeln und ziehen von dannen. Mit ihren wenigen Habseligkeiten und dem Gefühl wieder jemand zu sein.