Heute vor zehn Jahren entkam Natascha Kampusch ihrem Peiniger. Sie wurde als 10-Jährige in Wien entführt und in einem Verlies ohne Fenster festgehalten. Ihr Entführer, ein 44 Jahre alter Pädophiler, hatte sie dort eingesperrt, geschlagen, missbraucht. Nach acht Jahren in Gefangenschaft gelang ihr die Flucht.
SRF News: Wie sehr ist der Fall heute – zehn Jahre nach Kampuschs Flucht – in Österreich noch Thema?
Colette Schmidt: Der Fall ist immer noch sehr präsent, insbesondere da gerade wieder zwei neue Bücher erschienen sind. Eines davon von Natascha Kampusch selbst, in dem sie retrospektiv die letzten zehn Jahre in Freiheit ansieht. Durch solche Publikationen kommt der Fall natürlich wieder an die Öffentlichkeit und man spricht wieder darüber. Abgesehen davon hat der Fall schon 1998, als das Kind am helllichten Tag in Wien auf dem Schulweg verschwand, die Nation erschüttert. Man fühlte sich nicht sicher, wenn Kinder einfach so verschwinden können. Das wird nie ein Fall sein, den man vergisst.
Sie haben immer wieder über den Fall geschrieben. Was hat Sie daran besonders interessiert?
Ich hatte 2009 angefangen, mich damit zu beschäftigen. Da gab es einerseits einen Richter, der ihre Mutter und ein paar andere Menschen beschuldigte, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Er sagte das immer wieder, bis die Mutter ihn vor Gericht zerren musste. Das war ein ganz eindeutiges Kalkül dieses Richters, denn dadurch hat er erreicht, dass Natascha Kampusch das einzige Mal überhaupt als Zeugin vor Gericht ihre Erlebnisse schildern musste. Es gab ja nie ein Verfahren, da der Entführer sich, gleich nachdem sie sich befreit hat, umbrachte.
Nicht nur die Polizei hat schlampig ermittelt. Auch die Staatsanwaltschaft hätte genauer hinschauen müssen.
Der andere Grund, mich dafür zu interessieren, war der ehemalige Höchstrichter Ludwig Adamovich, der als Teil einer Untersuchungskommission grobe Zweifel daran anmeldete, dass es da nur einen Täter gab. Das Verlies mit den schweren Türen zum Beispiel konnte wohl kaum einer alleine gebaut haben. Und wenn es nicht nur einen Täter gab, dann laufen ja noch irgendwo Menschen herum, die Kinder entführen. 2010 hat sich dann der Chefermittler der Soko Kampusch erschossen. Bei diesem Selbstmord gab es grosse Ungereimtheiten, etwa dass sich ein Rechtshänder mit der linken Hand erschiesst. Das ist eher ungewöhnlich. Aber auch dass er nie obduziert wurde, obwohl er ein hoher Polizeibeamter war. Das waren Punkte, an denen die Geschichte für mich interessant wurde.
Der Polizei wird auch vorgeworfen, entscheidenden Hinweisen nicht nachgegangen zu sein. Hätte man den Täter nicht schon viel früher stellen können?
Das ist eine Tatsache, die niemand bestreitet. Das Haus von Wolfgang Priklopil in Strasshof geriet schon Wochen nach der Entführung von Natascha Kampusch ins Visier der Polizei. Ein Beamter, der privat jemanden in Strasshof kannte, soll gesagt haben, dass da einer wäre, der ins Täterprofil passen würde. Priklopil wurde dann an der Tür gefragt, ob er etwas wisse. Er verneinte und die Beamten gingen wieder. Das wars. Da war man also schon sehr nahe an ihm dran. Nun kann man sagen, das sei Pech. Aber Tatsache ist, zu diesem Zeitpunkt sass Kampusch in diesem Keller – und dann noch weitere acht Jahre lang. Das ist erschütternd. Die Polizei hat aber auch der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, sie sei ihren Hinweisen nicht nachgegangen. Man kann also nicht nur sagen, die Polizei habe schlampig ermittelt. Auch die Staatsanwaltschaft hätte genauer hinschauen müssen.
Haben Sie mit Natascha Kampusch jemals persönlich darüber gesprochen?
Nein, ich habe mit ihrem Anwalt gesprochen. Er hat mir gesagt, dass sie nie gesagt habe, es gäbe keinen Mittäter. Sondern sie habe gesagt, sie kenne keine Mittäter. Sie hat also nicht ausgeschlossen, dass beispielsweise jemand bei der Vorbereitung ihrer Entführung mitgeholfen hat, dass es da einen Komplizen gab. Und wenn es diesen Komplizen gab, dann läuft der frei herum. Das ist nicht gerade beruhigend.
Ich finde es gut, dass sie Bücher geschrieben hat und so ihre Geschichte selbst in die Hand nahm.
Sie haben sich immer wieder kritisch dazu geäussert, wie mit Kampusch in Österreich umgegangen wurde. Dass ihr zum Beispiel immer wieder vorgeworfen wurde, sie wolle mit ihren Büchern nur Geld verdienen. Wie erklären Sie sich das?
Ich muss dazu sagen: Es haben ganz viele Menschen mit Natascha Kampusch Geld verdient. Nicht zuletzt auch Medien, aber auch diverse Autoren. Sie wurde von Anfang an – das beschreibt sie auch in ihrem neuesten Buch – von Medienberaten umgeben, von einem Kinderpsychologen, der ein Gutachten über sie geschrieben hatte, ohne sie je gesehen zu haben. Es waren lauter Männer, die sich wie ein Schild um sie aufgebaut haben und für sie kommuniziert haben. Deshalb finde ich es gut, dass sie Bücher geschrieben hat und so ihre Geschichte selbst in die Hand nahm. Ihr vorzuwerfen, dass sie nach dem Erlittenen selber Geld verdient damit, finde ich unwahrscheinlich. Im Übrigen habe ich bei der Kritik auch immer viel Frauenfeindlichkeit mitschwingen gehört. Man sollte sich mal vorstellen, wie diese ganze Diskussion verlaufen wäre, wenn damals ein kleiner Bub entführt worden wäre. Wenn ein junger Mann sich selbst befreit und Bücher darüber geschrieben hätte. Ich zweifle, ob man ihm genauso feindselig gegenübergetreten wäre wie ihr.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.