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Frau mit Kind in Bolivien
Legende: Zwei Gläser, die Leben verändern. Martin Aufmuth

Panorama Kleine Gläser, grosse Wirkung: Eine Brille für 1 Dollar

150 Millionen Menschen auf der Welt bräuchten eine Brille, können sich aber keine leisten. Der ehemalige Physik- und Mathematiklehrer Martin Aufmuth hat eine Brille erfunden, die nur 1 Dollar kostet. Nun ist er weltweit mit seinem Brillenprojekt unterwegs.

Wer schlecht sieht, kann nicht lernen, nicht arbeiten und nicht für seine Familie sorgen. Diesen Teufelskreis wollte Martin Aufmuth mit seiner Erfindung durchbrechen. Nun ist sie auf dem Markt: Eine Brille, deren Materialwert bei nur 1 Dollar liegt.

Aus einem Federstahldraht lässt sich ein Brillengestell formen, Gummischläuche polstern die Brille, die Gläser sind aus Plastik. In weniger als einer halben Stunde ist die Brille fertig. Sie lässt Menschen nicht nur besser sehen, sondern schafft vor Ort auch Arbeitsplätze. Verkauft wird die Brille zum Preis eines Tageslohns – je nach Land unterschiedlich. Kleinunternehmer können sich mit der Herstellung der «EinDollarBrille» selbstständig machen. In acht Ländern ist Martin Aufmuth mit seinem Projekt inzwischen vertreten.

In Bolivien betreut der Schweizer Max Steiner das Projekt der «EinDollarBrille». Er lebt seit 16 Jahren in Bolivien, gründete dort eine Jugendsozialstiftung und war auch Honorarprofessor für Internationale Entwicklung und Beziehungen an der Universität in Santa Cruz.

Zur Person

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Max Steiner (*1948 in Frauenfeld) gründete 2000 eine soziale Jugendstiftung in Bolivien, der Heimat seiner Ehefrau. Er baute mehrere Jugendherbergen auf, die auch Spanischkurse sowie Reisen anbieten. Die Stiftung ist in der Gesundheitsprävention aktiv. Seit 2013 unterstützt Max Steiner das Projekt der «EinDollarBrille».

SRF: Wie kamen Sie auf das Brillenprojekt?

Max Steiner: Ich habe Martin Aufmuth, den Erfinder der «EinDollarBrille», vor 4 Jahren in Deutschland kennengelernt. Ich war dort an einem Studienaustausch am Institut für Geografie der Uni Erlangen – dort arbeitete er als Lehrer.

Was hat Sie überzeugt, sich selbst in diesem Projekt zu engagieren?

Im Gesundheitssystem Boliviens gibt es genau in diesem Bereich eine Lücke. Schätzungsweise über 150‘000 mehrheitlich indigene Einheimische sehen nicht gut – und die Gebiete, in denen sie leben, sind medizinisch nicht gut versorgt. Das Brillen-Projekt ist mobil, die Brillen sind bezahlbar – 1 Dollar eben – und die Produktion bringt Beschäftigung. Das hat mich überzeugt und ich wurde Martin Aufmuths Länderverantwortlicher für Bolivien.

Wie gross ist die Nachfrage nach der Brille?

Das Erstaunliche ist, dass manche Betroffenen oft gar nicht wissen, dass sie nicht gut sehen. Bei den Kindern merken es dann manchmal die Lehrer. Doch wir treffen monatlich 1500, oft sogar gegen 2000 Menschen aller Altersklassen, deren Sehvermögen eingeschränkt ist. Nach dem Sehtest passen dann unsere Optik-Assistenten durchschnittlich bis zu 1200 Brillen an, als Lese-, Weitsicht- oder auch Sonnenbrillen. Denn hier in Bolivien sind Sonnenbrillen sehr wichtig wegen der hohen UV-Strahlung. Besonders in den Berggebieten der Anden auf über 4000 Metern oder auf der Sonneninsel draussen im Titicacasee.

«DOK»

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«Kleine Gläser – grosse Wirkung». «DOK» begleitet den Erfinder der «EinDollarBrille» in die Favelas von São Paulo.

Ein wichtiger Aspekt des Brillenprojekts ist, dass die Brillen vor Ort hergestellt werden und dass Arbeit geschaffen wird. Wie bilden Sie Leute aus – und wieviele Menschen sind in Bolivien mittlerweile als Brillenproduzenten tätig?

Aus Deutschland werden uns die Biege-Tische, Werkzeuge, Edelstahldrähte und Kunststoffschläuche in bester Qualität geliefert. In den Armenvierteln und abgelegenen Bergdörfern haben wir erste Trainings mit Menschen gemacht, sie waren meist arbeitslos. Wir suchten gezielt solche Frauen und Männer, die kunstgewerbliche Fähigkeiten haben. Wer diese Auswahl bestanden hat, erhält eine drei- bis vierwöchige Schulung mit deutschen Technikern. Das macht den angehenden Produzenten grossen Spass. Es sind heute 13 Produzenten, die meisten sind Frauen, und sie knacken bald die Marke von 25‘000 Brillen pro Jahr.

Was verdienen sie?

Gut, aber gewollt auch unterschiedlich. Gerade junge Mütter arbeiten gerne Teilzeit. Die Löhne können bis maximal umgerechnet auf 400 Franken steigen – durchaus das Gehalt eines Schullehrers.

Wie kommt die «EinDollarBrille» bei den lokalen Augenärzten und Optikern an? Entsteht da nicht eine problematische Konkurrenz durch dieses Projekt?

Das dachten wir auch und suchten uns deshalb von Anfang an den richtigen Partner: Das Fachinstitut für Augenoptik ISSEM. In der Praxis zeigt sich nun, dass wir uns in allen Anstrengungen voll ergänzen. Die Augenärzte haben ihre Praxen nur in den wenigen Grossstädten, und die Optiker sitzen alle zusammen an wichtigen Einkaufsstrassen im Zentrum. Wir erreichen aber jene Menschen, die noch nie mit ihnen in Kontakt kamen. Sobald wir ein grösseres Augenproblem erkennen, vermitteln wir diese Patienten an den Augenarzt und den Optiker – sie haben nun mehr Zulauf. So haben wir nun bereits viele Freunde gefunden, die unser Projekt unterstützen.

Sie vertreten das Projekt in Bolivien, ist eine Ausweitung geplant?

Ja, ich habe die Ehre, Koordinator für ganz Süd- und Mittelamerika zu werden. Mexiko, Brasilien, Peru, Kolumbien, Ecuador... Da gibt es viel zu tun! Wir haben das Ziel, bis im Jahr 2020 auf diesem Kontinent 50‘000 Brillen zu produzieren, und damit eben so vielen Menschen mit Sehschwächen zu helfen.

Es ist eine grosse Herausforderung, in einem Entwicklungsland Sozialprojekte organisatorisch hinzubekommen. Wenn ich das wachsen sehe, befriedigt und motiviert mich das sehr!

Das Interview führte Christa Ulli.

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