SRF: Gerd Leonhard, sie bezeichnen sich als Futurist. Mit Verlaub, dass klingt etwas nach Kristallkugel.
Gerd Leonhard: Meine Arbeit ist keine Hellseherei, sondern eine Mischung aus intensiver Recherche, viel Vorstellungskraft und Intuition. Ich bemühe mich, immer mindestens ein oder zwei Schritte vorauszuschauen. Wer sich zu sehr auf das Hier und Jetzt konzentriert und nicht schaut, was in fünf oder gar zehn Jahren ist, verpasst meistens die relevanten Veränderungen, die sich anbahnen und wird eines Tages bedeutungslos. Ich verbringe also 95 Prozent meiner Zeit mit dem, was uns morgen erwartet – und buchstabiere dann «rückwärts von der Zukunft».
Können Sie einige Veränderungen nennen?
Die Arbeitswelt, wie wir sie 2015 kennen, wird in den kommenden zehn Jahren komplett umgekrempelt. Alles was möglich ist, wird automatisiert oder «roboterisiert». Die Technik ist bald weit genug, um einfache und zunehmend auch komplexere Arbeiten zu übernehmen. Kassiererin, Busfahrer sowie zahlreiche Finanzanalysten und Steuerberater – ein Teil dieser Berufe ist bald Geschichte. Bald schon wende ich mich mit Finanzproblemen an meinen virtuellen Steuerberater oder scanne meine Belege in eine smarte Wolke, die den Rest für mich macht.
Zudem werden wir das Ende der Ära der globalen Vorherrschaft von fossilen Brennstoffen erleben – die Zukunft liegt in erneuerbaren Energien. Damit hat auch das benzin-betriebene Auto als Statussymbol ausgedient. Frei verfügbare Zeit, Natur, «unvernetzte» Momente sowie ein individueller Stil sind die Luxusgüter der nahen Zukunft.
Wo lauern die Gefahren in dieser schönen, neuen Welt?
Technologie ist ja eigentlich immer schlecht und gut – es kommt stets auf den Kontext an. Wir müssen als Gegengewicht zur immer stärker boomenden Technik auch eine starke Ethik, also ein Übereinkommen haben, wer unsere Daten zu welchem Zweck nutzen darf. Ebenso gilt zu prüfen, welche Technologie auch wirklich zum eindeutigen und langfristigen Nutzen der Menschen ist. Sonst leben wir irgendwann in einer reinen Maschinenwelt. Ein Gegenpol zu immer mehr Technik ist eine neue Menschlichkeit. Ich wiederhole zudem immer wieder: Künstliche Intelligenz lernt zwar exponentiell schnell, aber sie kennt keine sozialen Regeln. Ein Roboter hat keine Moral, kein Verständnis für menschliche Prinzipien. Wir müssen uns deshalb vor einem faustischen Pakt mit der Technik hüten – nutzen ja, versklaven nein.
Welchen Mythen in Sachen Technik glauben wir sonst noch?
Eine grosse Datenmenge bedeutet beispielsweise nicht automatisch mehr und bessere Informationen. Daten und smarte Algorithmen alleine werden meistens einer komplexen menschlichen Realität nicht gerecht.
Was nervt Sie persönlich an sozialen Netzwerken?
Mich ärgern User mit zu viel Freizeit und einer total überdrehten Erwartungshaltung an das Gegenüber. Viele dieser Nutzer erwarten sofortige Präsenz bei Fragen, welche sich durch eine minimale Recherche auch so lösen liessen. Sobald ein Austausch im Netz jedoch realitätsnah und für alle gewinnbringend ist, gefällt er mir.
Kommen wir zurück zur Arbeitswelt. Was raten Sie Jugendlichen bei der Berufswahl?
Nutzt und nährt eure rechte Gehirnhälfte, dort sitzt die Kreativität und alles was ein Computer noch lange nicht können wird. Macht euch unverzichtbar mit Dingen, die nur ihr könnt. Vernetzt euch, beobachtet und schafft eure eigenen Berufe. Kreative Jobs werden überleben, dazu zähle ich übrigens auch handwerkliche Tätigkeiten. Alles was nicht automatisiert werden kann, geht in eine gute Richtung! Erwartet radikale Veränderungen.
Das Gespräch führte Andrea Christener