Die Pumpgeräusche bei der Blutdruck-Messung kennt wohl jeder. Schliesslich handelt es sich um eine Routineuntersuchung in der Arztpraxis. Doch trotz dieser breiten und langjährigen ärztlichen Erfahrung mit dieser Untersuchung: Um die Werte, die daraus resultieren, herrscht Verwirrung. Wie viel Blutdruck ist zu viel? Da ist sich die Fachwelt uneins.
An einem zu hohen Blutdruck leidet etwa jeder vierte Erwachsene in der Schweiz – also rund 1,5 Millionen Menschen. Wer davon betroffen ist und wer nicht, entscheiden Leitlinien, an welche sich praktizierende Ärzte halten sollten. Die darin enthaltenen Grenzwerte, ab wann jemand als krank gilt, sorgen unter Ärzten seit Jahren immer wieder für Diskussionen.
Je nachdem, in welchem Land man lebt, greifen Ärzte unterschiedlich schnell zu Medikamenten. Die Amerikaner haben den Grenzwert vor knapp einem Jahr auf den historisch tiefsten Wert gesenkt: auf einen Blutdruck von 130/80. Die Kritik an den neuen Grenzwerten war laut. Denn über Nacht sind in den USA mehr als vierzig Millionen Menschen zu Blutdruck-Patienten geworden, von denen nun vier Millionen Medikamente schlucken müssen.
Die Grundlage für die Anpassung in den USA ist eine gross angelegte Studie namens Sprint. Sie hat auch Europa unter Zugzwang gesetzt. Auch die Europäische Leitlinienkomission hat eine neue Version ausgearbeitet. Sie wird am 25. August am Europäischen Kardiologenkongress veröffentlicht.
Plötzlich mehr Medikamente schlucken
Ein erster Einblick zeigt: Die Europäer wollen nicht ganz so weit gehen, wie die Amerikaner. Sie halten am bisherigen Wert von 140/90 fest. Sprich: In Europa wird es nicht plötzlich mehr Blutdruck-Patienten geben.
Doch einen Punkt passen sie an die amerikanischen Richtlinien an: Wer behandelt wird, soll neu einen tieferen Blutdruck erreichen. Dieser sogenannte Zielwert soll statt 140/90, 130/80 sein. Dafür müssen Patienten nun mehr Medikamente schlucken.
Laut Franz Messerli, Kardiologe am Inselspital in Bern, ist unwahrscheinlich, dass hinter diesem Wechsel die Pharmalobby steckt. Denn die meisten Patente auf Blutdruck-Medikamente sind ausgelaufen. Mittlerweile gibt es günstige Generika auf dem Markt. Mit Blutdruck-Senkern ist also kein grosses Geld mehr zu verdienen.
Bedenklich für ältere gebrechliche Patienten
Das Problem mit den neuen Richtlinien: Nicht allen tut ein so tiefer Blutdruck gut. Ältere und gebrechliche Patienten könnten sogar Schaden nehmen. Ihr Problem: «Sie leiden oft an einer sogenannten orthostatische Hypotonie. Das ist ein Blutdruckabfall nach dem Aufstehen», sagt Andreas Schönenberger, Geriater im Berner Spital Tiefenau. Bei zu niedrig eingestelltem Blutdruck drohe den Betagten Schwindel und Ohnmacht. Dies kann zu Stürzen und zu Brüchen führen, und gebrechliche Menschen etwa dauerhaft bettlägerig machen.
Dies zeigt auch eine neue Studie von Sven Streit, Hausarzt und Professor am Berner Institut für Hausarztmedizin. Dafür hat er rund 600 Patienten über fünf Jahre begleitet. Und: Er hat weitere Nachteile aufgedeckt, die auftreten können, wenn der Blutdruck bei älteren, gebrechlichen Menschen gesenkt wird: «Je tiefer ihr Blutdruck ist, desto schlechter ist ihr Gedächtnis, und auch die Sterblichkeit nimmt zu.»
Neue Richtlinien auch in der Schweiz
Eine weitere Studie von Streit hat gezeigt, dass dieses Wissen, wie gebrechliche Patienten zu behandeln sind, unter Hausärzten in Europa nicht gleich verbreitet ist. Länder, in denen häufiger über 80-Jährige leben, sind im Vorteil. Sie scheinen mehr Erfahrung zu haben. Schweizer Ärzte wissen gemäss seiner Studie gut Bescheid.
Weil Blutdruckgrenzwerte gerade im Alter individuell festgelegt werden müssen, wehren sich praktizierende Ärzte gegen fixe tiefe Werte, wie sie aktuell in Amerika gelten.
Auch die derzeit geltenden Richtlinien in der Schweiz berücksichtigen individuelle Fälle nicht. «Mir wäre es ein wichtiges Anliegen, dass Richtlinien genau differenzieren, welche Patienten man mit tiefen Zielwerten einstellen soll und welche nicht. Bisher ist das viel zu ungenau definiert», sagt Andreas Schönenberger. Die Schweizer erneuern ihre Leitlinien im November.