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Technikgeschichte Die Vernetzung der Welt

Der Telegraf, das Internet und soziale Medien lösten ähnliche Reaktionen aus: Unverständnis, Hoffnung und Enttäuschung.

Seit mehr als 150 Jahren arbeiten Erfinder an der Vernetzung der Welt. Dabei zeigt sich: Unsere Vorfahren im 19. Jahrhundert reagierten ganz ähnlich auf die neuen Technologien wie wir heute.

Vom alten zum neuen Netz

1850 gründete Paul Julius Reuter in Aachen die Nachrichten-Agentur Reuter. Seine Spezialität: Er verschickte Börsenkurse zwischen Brüssel und Aachen auf die schnellstmögliche Art – mit Brieftauben. Zur Sicherheit kopierte er jede Depesche dreimal und liess sie von drei Tauben transportieren.

Ein Jahr später ersetzte Reuter die Tauben durch eine Telegrafen-Linie. Damit war die durchgehende Kommunikation über eine Telegrafenverbindung zwischen Paris und Berlin in Echtzeit möglich.

An dem bahnbrechenden Kommunikationsmittel hatten mehrere Wissenschaftler und Tüftler während Jahren gearbeitet. Ganz entscheidend war der Beitrag von Samuel Morse. Er erfand den Morse-Code und präsentierte 1837 ein Gerät, das über eine Leitung mit bloss zwei Drähten Nachrichten austauschen konnte.

Langsamer Start

Morse bat das US-Parlament um finanzielle Unterstützung für eine experimentelle Telegrafenverbindung. Doch die Politiker verstanden nicht, wie das Gerät funktioniert und glaubten, Morse sei ein okkultistischer Scharlatan. Erst 1844 konnte die erste Telegrafenverbindung zwischen Washington und Baltimore ihren Betrieb aufnehmen.

Zur gleichen Zeit setzte sich William Cook in Grossbritannien für eine Telegrafenverbindung entlang einer Eisenbahnlinie ein. Auch in England waren die Menschen dem Erfinder gegenüber skeptisch und verstanden nicht, worin der Nutzen des neuen, ultraschnellen Kommunikationsmittels bestand.

Illustration: Zwei Männer sitzen am an einem Tisch vor einem Gerät, darum herum Zuschauer und eine Zuschauerin.
Legende: Samuel Morse übermittelte am 24. Mai 1844 über eine experimentelle Telegrafenverbindung zwischen Washington und Baltimore die erste Nachricht. Wikimedia

Polizei und Betrüger profitieren

Ein Heureka-Erlebnis bescherte der Öffentlichkeit eine Bande von Taschendieben. Die Gauner bestahlen Passagiere im Bahnhof Paddington und machten sich dann mit dem Zug aus dem Staub. Da kein Kommunikationsmittel schneller war als die Eisenbahn, gelang ihnen die Flucht immer – bis zur Einführung der Telegrafen-Linie. Mit Lichtgeschwindigkeit konnte die Polizei ihre Kollegen am nächsten Bahnhof informieren, in welchem Zug die Diebe flüchteten. Dort wurden sie dann verhaftet.

Schnell verstanden aber auch Betrüger die Vorteile des neuen Mediums bei Pferdewetten für sich zu nutzen. Bevor die Buchmacher in London die Resultate per Bahn erhielten, telegrafierten die Schlaumeier die Ranglisten nach London, wo ein Komplize eine Wette abschloss.

Illustration aus dem 19. Jahrhundert: Zwei Engel über einem Schlachtfeld
Legende: Die Verlegung der ersten Telegrafenverbindung zwischen England und Frankreich weckte hohe Erwartungen: Friede statt Krieg. Wikimedia

Grosse Hoffnungen

Auf anfängliche Skepsis und Unverständnis folgte bald Euphorie. In den USA und in Europa entstanden in wenigen Jahren zahlreiche Telegrafen-Netzwerke, die Städte untereinander über Landes- und Staatsgrenzen hinaus verbanden.

1850 wurde zwischen England und Frankreich das erste Unterseekabel verlegt, und nach unzähligen Fehlschlägen gelang es schliesslich 1866, mit einer Leitung im Atlantik die Alte mit der Neuen Welt zu verbinden.

Die Telegrafie weckte grosse Erwartungen: Das neue Kommunikationsmittel steigere den Austausch zwischen Menschen auf allen Kontinenten. Das fördere das gegenseitige Verständnis und die Anteilnahme der Völker, darum werde es in Zukunft keine Kriege mehr geben, so der Tenor eines Artikels im Magazin «Scientific American» erschien.

Heute lachen wir über die Naivität unserer Ur-Ur-Grossväter, über deren technisches Unverständnis. Dabei vergessen wir, dass wir ganz ähnlich auf die Einführung des Internets reagierten oder das Aufkommen der sozialen Medien, wie folgende Beispiele zeigen.

Was ist das Internet?

Noch 1995 hatte der Fernsehstar David Letterman grosse Mühe, das Internet und dessen Potenzial zu verstehen. Während seiner Talkshow bat Letterman den Gast Bill Gates, ihm doch bitte zu erklären, was das Internet sei und was die neue Technologie bringe.

Als der Microsoft-Chef erklärte, man könne über diesen öffentlichen virtuellen Raum nicht nur Texte, sondern zum Beispiel auch zeitversetzt Radioprogramme übermitteln, stiess er bei Letterman auf Unverständnis: Das könne man ja auch mit einem Radio und einem Tonbandgerät.

Facebook als Werkzeug im Kampf gegen Potentaten

Grosse Hoffnungen ins Internet und vor allem Facebook hegte auch Wael Ghonim während des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren, wie er dem Fernsehsender PBS in einem langen Interview erzählte: «Ich dachte, dass diese neue Macht (Facebook) die politische Dynamik in Ägypten verändern wird.»

Der Informatiker und Aktivist rief Ende Januar 2011 über Facebook zur Revolution in Ägypten auf. Nicht einmal drei Wochen später dankte Präsident Hosni Mubarak ab. Wael Ghonim war begeistert von Facebook und wollte Mark Zuckerberg persönlich danken.

Doch auch auf diese Begeisterung folgte bald Ernüchterung, weil seine politischen Gegner ebenfalls Facebook nutzten, um ihn mit unwahren Vorwürfen zu verunglimpfen. Das könne in Ägypten gefährlich enden, so Wael Ghonim.

Es sei naiv gewesen, nicht zu verstehen, dass das Internet und Facebook nicht mehr sind als Instrumente, die alle für sich nutzen können: «Jeder kann mit diesen Werkzeugen die anderen manipulieren, jeder kann sich in dieses Game hacken.»

Ein Werkzeug für alle

So, wie der Telegraf im 19. Jahrhundert sowohl der Polizei als auch Kriminellen einen Informationsvorsprung ermöglichte, so kann heute jeder über soziale Netzwerke seine Ziele verfolgen.

Wael Ghonim unterstellt Mark Zuckerberg keine bösen Absichten, findet sein Vorgehen aber naiv: Facebook war als kommerzielles Unternehmen für privaten Austausch gedacht, für Katzenvideos und Baby-Fotos, Heiratsanzeigen oder Bilder des letzten Abendessens. Der Facebook Gründer hatte nie damit gerechnet, dass die Plattform einmal fast drei Milliarden Menschen verbinden wird, die nicht nur harmlose private Posts, sondern auch Hasskommentare oder Fake News verbreiten können.

Bringe man Politik auf Facebook, so könne dies gravierende Konsequenzen haben. Weil Facebook emotionale und extreme Inhalte bevorzugt, um so die Nutzer auf der Plattform zu halten, verstärke das soziale Netzwerk die Polarisierung einer Gesellschaft, so Wael Ghonim.

Wie Facebook und andere soziale Netzwerke aus dem Dilemma wieder herausfinden, weiss niemand. Irgendwann wird eine Lösung gefunden – dann lachen unser Nachfahren über die Naivität ihrer Grosseltern.

SRF 4 News, 22.12.2020

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