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Trend zur Natürlichkeit Körperbewusst und pillenmüde

Frauen können heute sogar ihren Zyklus ausschalten – dank Pille. Doch der Trend geht genau in die andere Richtung.

  • Viele Frauen sind unzufrieden damit, regelmässig Hormone schlucken zu müssen. Das zeigt sich auch an den Absatzzahlen.
  • Auch Ärzte verschreiben die Pille heute zögerlicher als früher, vor allem wenn es um die Behebung von Hautproblemen geht.

Kürzlich geisterte sie durch die Medien: Kiran Gandhi, Ex-Schlagzeugerin der Musikerin M.I.A., die ihren London-Marathon im Jahr 2015 ganz offensichtlich während ihrer Periode lief. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Missgeschick – für Kiran Gandhi war es vielmehr ein Statement und der Aufruf an alle Frauen, ihre Tage nicht vor der Welt zu verstecken. «Period shaming», sich Schämen für die Periode, gehöre abgeschafft. Auf Facebookseiten zum Thema können sich Frauen mit Gleichgesinnten austauschen. Die Resonanz ist beträchtlich – auch die der Kritiker.

Die «Freibluterinnen» sind sicher derzeit der extremste Spross einer sich verändernden Haltung vieler Frauen gegenüber ihrem eigenen Körper. Diese macht auch vor eingespielten Verhütungsmethoden wie der Pille nicht halt.

Zyklusmanagement – kritisch hinterfragt

Heute könnten Frauen es sehr bequem haben: Dank der Antibaby-Pille ihre Menstruation phasenweise bequem loswerden – Zyklusmanagement heisst das auf neudeutsch. In den USA gibt es schon seit mehreren Jahren spezielle Pillen, die man ohne einwöchige Pillenpause einnehmen kann. In der Schweiz ist seit Oktober 2016 eine speziell getestete Pille auf dem Markt, mit der die Periode nur viermal im Jahr eintritt – wenn überhaupt.

Die Bereitschaft, jeden Tag eine Hormontablette zu schlucken, ist viel weniger vorhanden als noch vor zehn Jahren.
Autor: Christina Schlatter Gynäkologin

Nur: Immer weniger Frauen möchten hormonell verhüten. Youtube-Stars wie Dagi Bee geben jungen Frauen den Ton vor und schwören öffentlich der Antibaby-Pille ab. Der Effekt ist spürbar: Der Verkauf der beliebtesten Pillen hat zwischen 2008 und 2016 um über 20 Prozent abgenommen – von fast zwei Millionen Packungen auf heute 1.5 Millionen. Selbst wenn manche Frauen ihre Pille günstiger über das Ausland beziehen, bleibt der Trend bestehen. «Die Bereitschaft, jeden Tag eine Hormontablette zu schlucken, ist viel weniger vorhanden als noch vor zehn Jahren», beobachtet auch die Gynäkologin Christina Schlatter – und das, obwohl eine Monatspackung heute nur so viel Hormone enthält wie in den 1960er-Jahren eine einzelne Pille.

Im Pillennebel

Manchen hat der Fall Céline, die heute schwer hirngeschädigt ist, jedoch vor Augen geführt, dass sie mit der Pille kein harmloses Lifestyle-Mittelchen einnehmen, sondern ein ernsthaftes Medikament mit Nebenwirkungen – bis hin zu lebensbedrohlichen Thrombosen. Andere Frauen fühlen sich durch die Hormoneinnahme nicht mehr als sich selbst, haben keine Lust mehr auf Sex oder leiden unter Stimmungsschwankungen.

Grafik des Zyklus normal und unter Pille.
Legende: Normale Hormonschwankungen während eines Zyklus oben, Hormonschwankung unter der Pille unten. SRF

«Pill-Fog» – «Pillennebel» nennen englische Anti-Pillen-Aktivistinnen den Zustand, hormonell «heruntergepegelt» zu sein. Tatsächlich gibt eine grosse Studie Hinweise darauf, dass der Prozentsatz der Frauen mit Depressionen unter Pillen-Einnehmerinnen grösser war.

«Es ist sicher die gesellschaftliche Strömung da, die hin zu Bio, Natur, Natürlichkeit geht. Das war früher nicht so», bestätigt auch Jürgen Weiss, leitender Arzt der Frauenklinik am Luzerner Kantonsspital. Wer kann, baut sich sein Gemüse selbst an. Kauft seine Kleidung öko-zertifiziert. Verzichtet auf Fleisch und Plastik – und eben auch auf synthetische Hormone. Viele Frauen blicken mit Mitte 20 bereits auf eine zehnjährige Pillenkarriere zurück. Sie kennen sich und ihren Zyklus wenig und verspüren irgendwann das Bedürfnis danach.

Keine Pille als Kosmetikprodukt

Hinzu kommt: Auch Ärzte sind heute zögerlicher, die Pille als Lifestyle-Medikament zum Beispiel für ein besseres Hautbild zu verschreiben. Sie folgen damit den 2013 angepassten Richtlinien der Gesellschaft für Gynäkologie, die mehr Zurückhaltung empfiehlt.

Ein Schweizer Phänomen ist der Trend nicht. Er zeigt sich auch in den Nachbarstaaten, genauso wie in den USA oder Kanada. Nahmen 2002 beispielsweise noch über 30 Prozent der Amerikanerinnen zwischen 15 und 44 Jahren die Pille, waren es 2013 fünf Prozent weniger. US-Ärzte sprechen bereits von der «Generation pull-out» – einer Generation junger Frauen, die sich statt auf Hormone lieber auf den Coitus interruptus verlässt. Soweit ist es hierzulande nicht – die Pille ist nach wie vor das zweitbeliebteste Verhütungsmittel nach Kondomen. Aber ein kritisches Hinterfragen der Risiken und Nebenwirkungen schadet nie.

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