In Guangzhou steht die grösste Augenklinik Chinas. Von jeher hat sie deswegen einen regen Zustrom an Patienten. Doch nirgendwo zeigt sich die weltweite Epidemie der Kurzsichtigkeit besser als hier: Seit gut 15 Jahren ist der Komplex dem Patientenansturm nicht mehr gewachsen. Das Zhongshan Ophtalmic Center muss erweitert werden. Nicht etwa, weil es immer mehr ältere Menschen mit Augenproblemen gibt, sondern weil immer mehr Kinder nur noch verschwommen sehen.
Fast 90 Prozent aller chinesischen Teenager sind kurzsichtig, viele von ihnen gelten wegen ihrer Sehschwäche von über -5 Dioptrien als stark kurzsichtig – vor gut 60 Jahren waren es nur 10 bis 20 Prozent der Chinesen. In Seoul geht man von beeindruckenden 96.5 Prozent aller 19-Jährigen aus, in Singapur oder Taiwan sieht es ähnlich aus.
In Europa ist es noch nicht ganz so weit, aber: Seit den 1970er-Jahren nimmt die Zahl der Kurzsichtigen immer weiter zu. Rund die Hälfte aller Teenager und jungen Erwachsenen braucht inzwischen eine Brille, vor allem, weil sie in die Ferne nicht mehr gut sieht - je höher der Bildungsstand, desto mehr. Für die Schweiz gibt es keine verlässlichen Zahlen; dass die Eidgenossen im europäischen Vergleich jedoch konkurrenzlos gut sehen, ist nicht zu erwarten. Das ist mehr als ein lästiges Übel: Die Hälfte von ihnen könnte irgendwann erblinden. Denn bei der Kurzsichtigkeit wächst der Augapfel in die Länge. Das schwächt die Netzhaut und kann so zu irreversiblen Sehbehinderungen führen.
Laut internationaler Studien tritt die Myopie am häufigsten in China, Japan, Südkorea und Singapur auf - und liegt hier bei 50 Prozent.
Warum die Erdbevölkerung immer schlechter sieht, ist noch nicht zweifelsfrei belegt. Waren es noch geschätzte zwei Milliarden im Jahr 2010, sollen es 2020 bereits ein Drittel der Erdbevölkerung sein – oder sogar mehr. Jeder Zehnte soll dann schlechter als -5 Dioptrien sehen.
Ein Faktor ist die Genetik. Studien in den 1960er-Jahren zeigten, dass bei eineiigen Zwillingen meist beide kurzsichtig waren, häufiger als bei normalen Geschwistern. Australische Forscher ermittelten ein Risiko für eine Myopie von 7.5 Prozent, wenn kein Elternteil kurzsichtig ist. Zu 14.9 Prozent werden Kinder kurzsichtig, wenn ein Elternteil auf die Ferne schlecht sieht, und 43.6 Prozent werden eine Brille brauchen, wenn beide Elternteile kurzsichtig sind.
Eine familiäre Veranlagung ist also nicht von der Hand zu weisen, dennoch: Für die sprunghaft angestiegenen Zahlen lassen sich die Gene nicht allein verantwortlich machen. Also rückten die sozialen Faktoren in den Fokus. Schon 1969 beobachteten Forscher Inuit an der nördlichsten Spitze Alaskas, deren Lebensstil sich von Generation zu Generation schnell veränderte – und damit die Sehkraft: Waren nur zwei von 131 erwachsenen Inuit kurzsichtig, brauchte bereits mehr als die Hälfte ihrer Kinder und Enkel eine Sehkorrektur. Der deutlichste Unterschied zwischen den Generation: Die jungen Inuit lasen viel.
Kurzsichtigkeit als Preis der Bildung also? In Israel zeigte sich bereits in den 1990er-Jahren, dass männliche Teenies, die an Bibelschulen lernten, viel häufiger kurzsichtig waren als Altersgenossen, die sich weniger ins Bibelstudium vertieften. Auch neuere Studien schieben dem Schuldrill den schwarzen Peter zu. Denn genau dort, wo die Zahl der Kurzsichtigen besonders hoch ist, sitzen die Schüler am längsten über ihren Büchern oder vor dem PC.
Obwohl der Bildungsstand mit Myopie in Verbindung gebracht wird, ist eine höhere Bildung eher ein Mitgrund als die Hauptursache für die Kurzsichtigkeit.
Ein durchschnittlicher 15-Jähriger in Shanghai brütet nach dem Unterricht noch 14 Stunden pro Woche über seinen Hausaufgaben – in England sind es fünf Stunden, in den USA sechs. Ein Zusammenhang scheint deshalb nahezuliegen. Aber: In Studien ab dem Jahrtausendwechsel bestätigte sich die Korrelation zwischen der Menge an gelesenen Büchern oder der Zeit vor dem Computer und der Entwicklung der Kurzsichtigkeit nicht.
Kurzsichtigkeit scheint nach heutigem Stand der Forschung vielmehr ein Preis der Aus bildung denn der Bildung zu sein: Es zeigte sich, dass Kinder, die wie im klassischen Schulsystem üblich viel Zeit in geschlossenen Räumen verbringen, schlechtere Augen haben. Die Wissenschaftler führen das darauf zurück, dass die Netzhaut des Auges ohne ausreichend Sonnenlicht zu wenig Dopamin produziert und dadurch der Augapfel ungehindert in die Länge wächst, wie es bei der Kurzsichtigkeit geschieht.
In China wurden deswegen Versuche gestartet: Eine Hälfte der Schüler hatte über einen längeren Zeitraum Unterricht wie immer, die andere war täglich eine Schulstunde lang draussen. Tatsächlich gab es in der Frischluft-Gruppe zehn Prozent weniger Kurzsichtige.
Eine jüngst publizierte australisch-chinesische Metastudie rät immerhin: Täglich 1.25 Stunden mehr als die üblichen ein bis zwei Stunden Outdoor-Zeit pro Tag könnten das Myopie-Risiko um 50 Prozent reduzieren. Mindestens 10‘000 Lux Helligkeit scheint es zu brauchen, damit das Licht seine positive Wirkung entfalten kann. Das entspricht etwa dem Aufenthalt im Schatten eines Baumes mit Sonnenbrille an einem Sommertag. Ein gut ausgeleuchtetes Zimmer bringt es dagegen normalerweise nicht über 500 Lux.
Nur: Wie viel Zeit, wann und wie oft Kinder optimalerweise zum Wohle ihrer Augen genau nach draussen müssen, ist unklar. Klar zu sein scheint aber: Wie die Zeit an der frischen Luft verbracht wird, ist nebensächlich.