Hikmat ist 16 Jahre alt und geht in die 9. Klasse. Ausser jeweils am Mittwochmorgen: Da arbeitet er an einer Unterstufe seines Schulkreises in der Stadt Bern mit, in einer gemischten 1. und 2. Klasse.
Hinter Hikmats Einsatz in der Unterstufe steht das Projekt «Fly mit Rückenwind». Es will junge Menschen in der Entwicklung von sozialen Kompetenzen unterstützen, ihre Bildungschancen erhöhen. Und: Mithelfen, schwierige Schul- oder Lebenssituationen zu entspannen, Schulausschlüsse zu verhindern.
Hikmat ist begehrt bei den Kindern, sie haben viele Fragen beim Lösen von Aufgaben. Und die Lehrerin kann nicht überall gleichzeitig sein. Also hilft Hikmat, erklärt, was zu tun ist. Bei den Mathematik-Übungen, später bei Deutsch-Texten. «Wenn Hikmat da ist, muss man nicht so lange die Hand aufstrecken», sagt ein Mädchen. «Das ist praktisch.»
Hikmat hilft uns, wenn wir Streit haben. Dann ist alles wieder gut.
Überhaupt haben die Kinder Freude, wenn der 16-Jährige kommt. Er helfe ihnen, wenn sie untereinander Streit hätten, sagt ein Bub. «Dann ist alles wieder gut.» Ein Mädchen sagt über Hikmat: «Er kann gut Probleme lösen.»
Und neugierig sind sie, die kleinen Kinder. «Manchmal fragen sie mich, wie das Leben in meinem Alter sei», erzählt Hikmat. Respektieren sie ihn denn auch? Zu Beginn hätten manche Kinder versucht, ihn auszutricksen, sagt er. «Aber ich achte darauf, dass sie mich genauso ernst nehmen wie die richtige Lehrperson.»
Ich bin so froh, wenn Hikmat da ist.
Sie, Lehrerin Katharina Habermacher, ist begeistert von Hikmat. «Er ist eine grosse Erleichterung für mich.» Er sei total flexibel und helfe bei allem. «Ich bin so froh, wenn er da ist», sagt sie. «Er macht es super!»
Die Wirkung von Anerkennung
So viele positive Rückmeldungen – das bewirkt etwas bei einem Jugendlichen. «Mein Selbstvertrauen ist definitiv besser geworden», sagt Hikmat. Er lernt eigene Fähigkeiten kennen und erkennt, was für eine Wirkung sein Verhalten auf andere hat. «Wenn ich etwas gut mache, haben die Kinder Freude. Das sieht man hier ganz direkt.»
Die Schulsituation von Hikmat war schwierig. Vor etwa sieben Jahren flüchtete seine Familie vor dem Krieg in Syrien in die Schweiz. In seinem Herkunftsland hatte er die Schule nicht besuchen können. Darum sei er jetzt erst in der neunten Klasse, sagt Hikmat. «Eigentlich sollte ich schon weiter sein. Aber als wir in die Schweiz kamen, musste ich zuerst ein paar Monate lang Deutsch lernen.»
Nützlicher Perspektivenwechsel
Das Projekt «Fly mit Rückenwind» kam Hikmat sehr entgegen. Er startete letztes Jahr in einem Kindergarten seines Schulkreises. «Das war cool für mich, weil ich selber nie einen Kindergarten besucht habe», sagt er. Das aus einer anderen Perspektive zu erleben – auch jetzt in der Unterstufe – sei schön.
Letztes Jahr ging es Hikmat in seiner eigenen Klasse in der Oberstufe nicht so gut wie heute. Unterdessen hat er etwas Wichtiges gelernt: «Ich weiss jetzt, wie sich eine Lehrerin fühlt, wenn ein Schüler ‹anstrengend tut›», schmunzelt er. Darum sei ‹laut sein› für ihn heute «kein Thema mehr».
Ich weiss jetzt, wie sich eine Lehrerin fühlt.
Wurde er selber also ein angenehmerer Schüler? «Ja, das würde ich behaupten», sagt Hikmat. Und er geht jetzt auch lieber in die Schule. «Heute geht es mir gut.»
«Win-win-win-win»
Marian Schneider ist Initiantin des Projekts und Präsidentin des Vereins «Fly mit Rückenwind». Der Verein begleitet Schulen, die das Projekt einsetzen wollen. Von den Schulen bekomme sie ausschliesslich positive Rückmeldungen, sagt Marian Schneider. «Es ist ein Projekt, das wirklich gelingt.»
Was ist das Erfolgsrezept? «Dass die Jugendlichen dem spontanen Kontakt mit den Kindern nicht ausweichen können», sagt Marian Schneider. Sie war lange Schulleiterin in Biel und dort auch Leiterin der Fachstelle Integration in den Schulen.
Der Aufwand der Schulen, die «Fly» übernommen haben, ist überschaubar im Vergleich mit dem, was es ihnen bringt. «Die Schule in Münsingen beispielsweise spricht von einer ‹win-win-win-win-Situation›», erzählt Initiantin Marian Schneider.
Gewinnen würden die Jugendlichen, die kleinen Kinder, die Schule und – ein Punkt, an den sie beim Aufbau des Projekts gar nicht gedacht hätten – die Gemeinschaft in einem Dorf wie Münsingen. «Die Jugendlichen und die kleinen Kinder begegnen sich plötzlich auch ausserhalb der Schule.»
(Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 27.11.2019, 6:32/17:30 Uhr)