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Projekt gegen Schulausschlüsse Was ein Teenager bei Erstklässlern lernt

Oberstufenschüler mit Schwierigkeiten arbeiten in der Unterstufe mit – und helfen damit sich selber.

Hikmat ist 16 Jahre alt und geht in die 9. Klasse. Ausser jeweils am Mittwochmorgen: Da arbeitet er an einer Unterstufe seines Schulkreises in der Stadt Bern mit, in einer gemischten 1. und 2. Klasse.

Grosser Schüler und fünf Kinder an einem Tisch in einem Schulzimmer
Legende: «Was muss ich hier machen?» Diese Frage hört Hikmat oft. Geduldig hilft er beim Lösen von Mathe-Aufgaben. Elisa Häni/SRF

Hinter Hikmats Einsatz in der Unterstufe steht das Projekt «Fly mit Rückenwind». Es will junge Menschen in der Entwicklung von sozialen Kompetenzen unterstützen, ihre Bildungschancen erhöhen. Und: Mithelfen, schwierige Schul- oder Lebenssituationen zu entspannen, Schulausschlüsse zu verhindern.

Das Projekt «Fly mit Rückenwind»

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Vorwärtskommen statt von der Schule ausgeschlossen werden: Das Projekt bringt Jugendliche mit schulischen Problemen oder schwierigem Verhalten in eine neue Situation. Im Kontakt mit kleineren Kindern kommen sie in eine neue Rolle – sie werden Vorbild. Und sie werden geschätzt.

Während eines ganzen Schuljahres sind die Jugendlichen zwei bis vier Stunden pro Woche im Kindergarten oder einer Unterstufe ihrer Schule im Sozialeinsatz. Sie werden dabei begleitet, unter anderem mit einem Videocoaching.

Die Jugendlichen werden während ihres Einsatzes im Lauf eines Schuljahres etwa dreimal gefilmt. Bei der Besprechung liegt der Fokus vor allem auf ihren Fähigkeiten, also darauf, was sie gut können, was ihnen gelingt.

Das Angebot wird als Time-out-Prophylaxe beschrieben, also als Vorsorge, um Schulausschlüsse in schwierigen Situationen zu verhindern.

Hikmat ist begehrt bei den Kindern, sie haben viele Fragen beim Lösen von Aufgaben. Und die Lehrerin kann nicht überall gleichzeitig sein. Also hilft Hikmat, erklärt, was zu tun ist. Bei den Mathematik-Übungen, später bei Deutsch-Texten. «Wenn Hikmat da ist, muss man nicht so lange die Hand aufstrecken», sagt ein Mädchen. «Das ist praktisch.»

Hikmat hilft uns, wenn wir Streit haben. Dann ist alles wieder gut.
Autor: Schüler in der 1./2. Klasse

Überhaupt haben die Kinder Freude, wenn der 16-Jährige kommt. Er helfe ihnen, wenn sie untereinander Streit hätten, sagt ein Bub. «Dann ist alles wieder gut.» Ein Mädchen sagt über Hikmat: «Er kann gut Probleme lösen.»

Und neugierig sind sie, die kleinen Kinder. «Manchmal fragen sie mich, wie das Leben in meinem Alter sei», erzählt Hikmat. Respektieren sie ihn denn auch? Zu Beginn hätten manche Kinder versucht, ihn auszutricksen, sagt er. «Aber ich achte darauf, dass sie mich genauso ernst nehmen wie die richtige Lehrperson.»

Ich bin so froh, wenn Hikmat da ist.
Autor: Katharina Habermacher Lehrerin 1./2. Klasse

Sie, Lehrerin Katharina Habermacher, ist begeistert von Hikmat. «Er ist eine grosse Erleichterung für mich.» Er sei total flexibel und helfe bei allem. «Ich bin so froh, wenn er da ist», sagt sie. «Er macht es super!»

Die Wirkung von Anerkennung

So viele positive Rückmeldungen – das bewirkt etwas bei einem Jugendlichen. «Mein Selbstvertrauen ist definitiv besser geworden», sagt Hikmat. Er lernt eigene Fähigkeiten kennen und erkennt, was für eine Wirkung sein Verhalten auf andere hat. «Wenn ich etwas gut mache, haben die Kinder Freude. Das sieht man hier ganz direkt.»

Drei Kinder und der Jugendliche an einem Tisch, auf dem die Kinder mit Knete Zahlen "schreiben".
Legende: Wenn Hikmat dabei ist, macht das Lernen den Kindern offenbar noch mehr Spass. Elisa Häni/SRF

Die Schulsituation von Hikmat war schwierig. Vor etwa sieben Jahren flüchtete seine Familie vor dem Krieg in Syrien in die Schweiz. In seinem Herkunftsland hatte er die Schule nicht besuchen können. Darum sei er jetzt erst in der neunten Klasse, sagt Hikmat. «Eigentlich sollte ich schon weiter sein. Aber als wir in die Schweiz kamen, musste ich zuerst ein paar Monate lang Deutsch lernen.»

Nützlicher Perspektivenwechsel

Das Projekt «Fly mit Rückenwind» kam Hikmat sehr entgegen. Er startete letztes Jahr in einem Kindergarten seines Schulkreises. «Das war cool für mich, weil ich selber nie einen Kindergarten besucht habe», sagt er. Das aus einer anderen Perspektive zu erleben – auch jetzt in der Unterstufe – sei schön.

Letztes Jahr ging es Hikmat in seiner eigenen Klasse in der Oberstufe nicht so gut wie heute. Unterdessen hat er etwas Wichtiges gelernt: «Ich weiss jetzt, wie sich eine Lehrerin fühlt, wenn ein Schüler ‹anstrengend tut›», schmunzelt er. Darum sei ‹laut sein› für ihn heute «kein Thema mehr».

Ich weiss jetzt, wie sich eine Lehrerin fühlt.
Autor: Hikmat Schüler im Projekt «Fly mit Rückenwind»

Wurde er selber also ein angenehmerer Schüler? «Ja, das würde ich behaupten», sagt Hikmat. Und er geht jetzt auch lieber in die Schule. «Heute geht es mir gut.»

«Win-win-win-win»

Marian Schneider ist Initiantin des Projekts und Präsidentin des Vereins «Fly mit Rückenwind». Der Verein begleitet Schulen, die das Projekt einsetzen wollen. Von den Schulen bekomme sie ausschliesslich positive Rückmeldungen, sagt Marian Schneider. «Es ist ein Projekt, das wirklich gelingt.»

Was ist das Erfolgsrezept? «Dass die Jugendlichen dem spontanen Kontakt mit den Kindern nicht ausweichen können», sagt Marian Schneider. Sie war lange Schulleiterin in Biel und dort auch Leiterin der Fachstelle Integration in den Schulen.

Der Aufwand für die Schulen

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Für die Projekt-Einführung und Begleitung während der ersten zwei Jahre zahlen die Schulen dem Verein «Fly mit Rückenwind» 4800.- Franken. Zudem finanzieren sie die zusätzlichen Lektionen ihrer schuleigenen Projektleiterinnen, welche die Fly-Schülerinnen und -Schüler an mehreren Treffen pro Jahr coachen.

Der Verein wird von der Stiftung Mercator Schweiz unterstützt.

Der Aufwand der Schulen, die «Fly» übernommen haben, ist überschaubar im Vergleich mit dem, was es ihnen bringt. «Die Schule in Münsingen beispielsweise spricht von einer ‹win-win-win-win-Situation›», erzählt Initiantin Marian Schneider.

Marian Schneider im SRF Radiostudio
Legende: Marian Schneider hatte bei ihrer Arbeit an Bieler Schulen ein Projekt wie «Fly» gefehlt. Also rief sie es ins Leben. Elisa Häni/SRF

Gewinnen würden die Jugendlichen, die kleinen Kinder, die Schule und – ein Punkt, an den sie beim Aufbau des Projekts gar nicht gedacht hätten – die Gemeinschaft in einem Dorf wie Münsingen. «Die Jugendlichen und die kleinen Kinder begegnen sich plötzlich auch ausserhalb der Schule.»

Wo gibt es «Fly mit Rückenwind»?

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13 Schulen haben das Projekt, das 2015 ins Leben gerufen wurde, bisher übernommen. Die Mehrheit im Kanton Bern, dazu drei Schulen im Kanton Zürich, eine in Hergiswil (NW) und eine in Kerzers (FR). Ganz neu wird das Projekt unter dem Namen «Envole vers l'avenir» auch in der Romandie angeboten.

(Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 27.11.2019, 6:32/17:30 Uhr)

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