Seit den 1970er-Jahren sichten St.Galler Historiker die schriftlichen Quellen des Mittelalters. So werden Freiheiten, Verträge und andere Dokumente digitalisiert, im Wortlaut wiedergegeben und kommentiert. Daraus ist eine elfbändige Buchreihe entstanden, das «Chartularium Sangallense». Es umfasst Urkunden ab dem Jahr 700 bis 1411. «Sie sind der Rohstoff der Mittelalter-Geschichte», sagt der St.Galler Stadtarchivar Stefan Sonderegger. Der Blick in die Dokumente zeigt, dass Themen, die im Mittelalter beschäftigten, auch heute noch aktuell sind.
In der Urkunde von 1291 sind die Stadtrechte festgehalten, die Beziehung der Stadt und der Stadtbewohner zum Kloster und zum Abt. Der Vertrag wurde regelmässig erneuert – zum Beispiel 1312, 1318, 1330, 1334 und 1364. Dabei wurde der Inhalt einfach abgeschrieben, Copy-Paste würde man heute sagen. Das fällt auf, weil Formulierungen aus der Urkunde von 1291 später keinen Sinn mehr ergeben.
Ein interessantes Dokument ist die Urkunde aus dem Jahr 1387. Darin gewähren sich Nürnberg und St.Gallen die gegenseitige Zollfreiheit. Das Dokument und auch andere Verträge aus dem späten 14. Jahrhundert stehen für den Freihandel. Auch belegen Dokumente, dass es bereits im Mittelalter eine Euregio Bodensee gab – und nicht erst ab 1997.
Ein tragisches Dokument stammt aus dem Jahr 1349. Während die Pest grassierte, wurden in St.Gallen die Juden für die tödliche Krankheit verantwortlich gemacht und dafür hingerichtet. Weil die Juden aber unter dem Schutz von König Karl IV. standen, liessen sich die St.Galler einen Freibrief für den Judenmord schreiben – ein Beispiel für ein gefälschtes Dokument, sagt Stefan Sonderegger.
Chartularium Sangallense
Zum Nachlesen für jedermann
Das «Chartularium Sangallense» kostete rund 3,5 Millionen Franken und wurde von Bund, Kanton und Stadt, vom Lotteriefonds, vom Schweizerischen Nationalfonds und verschiedenen Stiftungen finanziert. Die Dokumente sind als Buch verfügbar und auch online.
Der Abschluss des Chartulariums ist gleichzeitig ein Neuanfang. Als nächstes Projekt sollen Briefe aus den Jahren 1400 bis 1650 digitalisiert werden. Sie geben Einblick in das Leben der Stadtbevölkerung, sagt Historiker Stefan Sonderegger.