Schweizer Kinderspitäler haben im vergangenen Jahr so viele Fälle von Kindsmisshandlungen registriert wie noch nie. Ärzte und Behörden seien heute besser sensibilisiert, sagt Markus Wopmann vom Kantonsspital Baden.
SRF News: Wie erklären Sie sich die signifikante Zunahme der gemeldeten Fälle von Kindsmisshandlung?
Markus Wopmann: Ich sehe zwei mögliche Gründe. Erstens denke ich, dass die Fälle an den Kliniken zunehmend besser und vollständiger erfasst werden. Und wenn die Leute etwas erfassen, sind sie sensibilisierter und denken mehr daran. Das ist die positive Seite der Erfassung. Der Hauptgrund liegt aber wahrscheinlich darin, dass – wenn es zu Polizeieinsätzen in Familien kommt – neuerdings oft Kinderkliniken eingeschaltet werden. Wenn Eltern sich schlagen und Kinder anwesend sind, werden diese Fälle einer Kinderklinik gemeldet, mit der Bitte das psychische Wohl der Kinder anzuschauen. Diese Übermittlung hat zugenommen, respektive in einigen Kantonen wurde neu damit angefangen.
Die Zahlen müssen also nicht heissen, dass im letzten Jahr die effektiven Misshandlungen so stark zugenommen haben. Werden sie sichtbarer?
Die Fälle werden jetzt zentraler erfasst. Aber ich glaube nicht, dass es eine reale Zunahme ist. Dafür gibt es keine genauen Daten und Anhaltspunkte.
Eltern, die das Kind selbst ins Spital bringen, vertuschen vielleicht, dass sie es geschlagen haben, und sagen, es sei ein Unfall gewesen. Wie merken Ärzte, ob ein Missbrauch oder ein Unfall vorliegt?
Das ist im Einzelfall manchmal schwierig zu unterscheiden, weil es Verletzungsmuster gibt, die nicht spezifisch sind. Das heisst, gewisse Verletzungen könnten durchaus auch durch einen Unfall erklärt werden. Es braucht eine Sensibilisierung, geschärfte Sinne. Zum Beispiel auch bei kleinen Kindern von unter einem Jahr. Verletzungen sind a priori verdächtig.
Wenn Sie einen Handabdruck auf einem Körper sehen, ist das ein sehr klares Bild. Aber es gibt leider auch Spuren, die nicht spezifisch sind.
Es gibt auch bestimmte Verletzungsmuster, die relativ oder gar sehr typisch sind für gewisse Misshandlungen. Wenn Sie einen Handabdruck auf einem Körper sehen, ist das ein sehr klares Bild. Aber nochmals: Es gibt leider auch Spuren, die nicht spezifisch sind. Sie könnten auch von einem Unfall stammen.
Ist es schwieriger, zum Beispiel wenn ein Kind verhaltensauffällig ist, psychische Misshandlungen aufzudecken?
Das ist richtig. Wenn es einen Polizeieinsatz gibt, dann beschreiben die Polizisten uns den Zustand des Kindes, wie sie es im Moment ihres Einsatzes vorgefunden haben. Dann weiss man, es hat Gewalt gegeben. Da darf man getrost den Fokus auf das Wohl des Kindes richten. Es gibt aber auch die Fälle ohne Polizeieinsatz. Das sind Kinder – ab dem Kindergartenalter – die etwas erzählen, zum Beispiel der Schulsozialarbeiterin. So kommt ein Fall ins Rollen.
Gemäss der neuesten Statistik sind drei Kinder an den Folgen der Misshandlung gestorben. Was ist diesen Kindern widerfahren?
Das waren alles Kinder, die jünger als ein Jahre alt waren. Zwei Kinder wurden körperlich misshandelt. Im einen Fall war es höchstwahrscheinlich ein sogenanntes Schütteltrauma mit Blutungen im Augenhintergrund auf der Netzhaut und Blutungen im Schädelinnern. Das zweite Kind wurde auch körperlich misshandelt. Das Dritte ist ertrunken, weil es nicht adäquat beaufsichtigt wurde. Es war also ein Fall von Vernachlässigung.
Was muss passieren, damit diese Fälle zurückgehen? Was kann oder müssen die Behörden, die Kantone, der Bund machen?
Ein Fokus wird wahrscheinlich diesen Sommer auf einer grossen Präventionskampagne von Kinderschutz Schweiz liegen. Sie hat das Ziel, die Leute so zu befähigen, dass sie auf körperliche Strafen im Rahmen der Erziehungsmassnahmen verzichten. Das ist eine Kampagne, die noch keinen behördlichen Hintergrund hat. Es wird aber sehr grossangelegt versucht, die Bevölkerung damit zu erreichen, so dass die Leute merken: Es bringt nichts.
Die Kampagne hat das Ziel, die Leute so zu befähigen, dass sie auf körperliche Strafen im Rahmen der Erziehungsmassnahmen verzichten.
Ich erreiche nicht, was ich möchte, und es ist zudem verboten in der Schweiz. Vielleicht ist im Anschluss daran, wenn es zu einem Umdenken kommt in der Bevölkerung, auch der politische Boden so weit geebnet, dass gesetzmässig – sprich in der Verfassung – festgehalten wird, dass ein Kind ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung hat. Im Moment ist das noch nicht in dieser Form festgehalten. Aber ich bin zuversichtlich, dass das mittelfristig kommt.
Das Gespräch führte Iwan Santoro.