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ADHS – Unterschätzt im Erwachsenenalter
Aus Puls vom 28.01.2019.
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Mit ADHS leben lernen Die entspannende Diagnose

ADHS: Bei Kindern oft vermutet, bei Erwachsenen nicht oft genug. Obwohl die Diagnose vielen Problemen ein Gesicht gäbe.

Karotten schälen und mit einer Freundin telefonieren, während gleichzeitig das Nudelwasser brodelt. Klingt nach alltäglichem Multitasking, wie es jeder und jede ab und zu kennt.

Für Tanja Di Tommaso ist solches Multitasking ein Dauerzustand. Sie muss sich ständig mit irgendetwas beschäftigen, kann gar nicht anders. Die Folge: Eine konstante Überbelastung. Tanja hat ADHS.

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Tanja Di Tommaso: «Mir ist es zu ruhig, wenn ich nichts zu tun habe.»
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Bei Menschen mit ADHS werden Informationen und eigene Gedanken nicht automatisch vorgefiltert. Sie müssen somit mit einer grösseren Datenflut zurechtkommen. Alltägliche Eindrücke überfluten ihre Sinne und belasten sie dadurch sehr.

Nicht zwingend hyperaktiv

Bei Kindern sprach man früher auch vom Zappelphilipp-Syndrom. Dabei dachte man vor allem an unkonzentrierte Knaben, die darum häufig ungenügende Leistungen in der Schule erbrachten.

Heute weiss man: Es sind beide Geschlechter betroffen. Und Betroffene müssen nicht zwingen unruhig sein. Bei der heute 35-jährigen Tanja Di Tommaso war das auch nie der Fall. Sie war nicht unruhig oder konnte sich schlecht konzentrieren. Im Gegenteil. Tanja war eine gute Schülerin. Konnte und wollte alles lernen – ja sogar brillieren.

Wenn irgendwas nicht in meinen Kopf wollte, bin ich halt dran geblieben, hab gebüffelt und gemacht, bis es klappte.
Autor: Tanja Di Tommaso

Und das tat sie auch. Bis sie ins Gymnasium kam. Da wurde die Last immer grösser und Tanja schon bald davon erdrückt – mit 17 Jahren hatte sie ihre erste Erschöpfungsdepression.

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«Ich wusste ja, dass ich nicht dumm bin! Ich musste lernen meine Unterschiede zu akzeptieren.»
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Typische Symptome bei Erwachsenen

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Rund fünf Prozent der Bevölkerung leidet an den Symptomen einer ADHS – einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Zwar geht man heute davon aus, dass sich ADHS im Erwachsenenalter nicht auswächst, es findet aber oft eine Veränderung der Symptome statt. Das heisst: Die ursprünglichen Symptome der ADHS aus dem Kindesalter wandeln sich. Die bei Kindern typische Hyperaktivität fehlt bei Erwachsenen oft und wird beispielsweise durch eine innere Unruhe und Angespanntheit abgelöst.

Zu den typischen Symptomen zählen:

  • Unaufmerksamkeit
  • Impulsivität
  • Vergesslichkeit
  • Termine schlecht einhalten können
  • Mühe haben, sich zu organisieren
  • chaotisch sein
  • Ängstlichkeit
  • schnelle Reizbarkeit
  • ständige Stimmungsschwankungen
  • mangelndes Selbstwertgefühl
  • Schwierigkeiten, eine Aufgabe zu Ende zu bringen
  • unüberlegtes Handeln
  • anderen häufig ins Wort fallen
  • Unruhe, nicht stillsitzen können

Bis zur Diagnose ADHS vergingen jedoch noch einige Jahre. Erst als Tanjas Mutter und Schwester die Diagnose ADHS erhielten, kam man auch bei ihr auf die Idee, dies abzuklären.

Wichtige Diagnose

Auch Ramon Schuler wusste bis vor kurzem nichts von seinem ADHS. Er hingegen hatte bereits in der Schule Mühe, sich zu konzentrieren – brachte schlechte Noten heim, eckte immer wieder bei anderen Kindern an, es gab Reibereien. Im Erwachsenenleben belastet Roman Schuler jedoch am meisten seine Impulsivität. Er ist schnell reizbar. Früher hat das seine Mutter zu spüren bekommen – heute seine Frau.

Im letzten Herbst führte darum eine ganz alltägliche Situation zum Streit. Es wurde laut. Dann gedroht. Und fast kam es zu Handgreiflichkeiten.

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«Selbst Kleinigkeiten können mich auf 300 bringen. Das kann sich das aufschauklen – bis es wirklich schlimm ist.»
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Solche Momente machen Roman Schuler Angst. Gedanken, seinem Leben ein Ende zu bereiten, krochen langsam ins Bewusstsein.

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«Was will ich eigentlich noch auf dieser Welt?»
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Deshalb suchte der 29-Jährige Hilfe. Die Fragen seiner Therapeutin zu seiner Vergangenheit bringen die typischen Muster zum Vorschein. Denn eine ADHS- Diagnose bei Erwachsenen ist nicht einfach zu stellen.

ADHS Diagnose bei Erwachsenen

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Zur Diagnose von ADHS steht bis heute kein einfacher Test zur Verfügung.

Die Diagnose erfolgt, wenn eine Person mehrere Symptome wiederkehrend über mindestens sechs Monate beschreibt und sie vor allem auch als belastend wahrnimmt. Die Symptome müssen sich in mehreren Lebensbereichen wie Familie, Partnerschaft, Freunde, Beruf oder Freizeitaktivitäten zeigen und seit der Kindheit bestehen.

Die wichtigen Informationen erfragen die Psychiater und Psychologen vor allem im Gespräch mit dem Betroffen, aber auch mit Hilfe nahestehender Personen wie den Eltern oder dem Lebenspartner.

Mit Hilfe eines Fragebogens wird festgestellt, welche Symptome vorliegen und wie stark sie ausgeprägt sind.

Begleitend können auch Leistungs- und IQ-Tests zur Abklärung der intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten durchgeführt werden.

Es gibt auch Psychiater und Psychologen, die Messungen der Hirnströme anbieten. Diese geben Hinweise darauf, ob gewisse Hirnareale von der Norm abweichen. Denn Neuropsychologen gehen davon aus, dass bei ADHS-Patienten gewisse Hirnfunktionen gestört sind. Äussere Reize wie Informationen und Emotionen können dadurch nicht richtig gefiltert werden. Die internationalen Richtlinien propagieren diese Hirnfunktionsmessungen allerdings nicht.

Gleichzeitig müssen natürlich immer auch andere organische und psychische Krankheiten ausgeschlossen werden, die ähnliche Symptome wie die ADHS hervorrufen können.

Gewissheit und Akzeptanz verschaffen

Doch gerade bei Erwachsenen, welche an ADHS leiden, ohne dies zu wissen, ist die Gefahr gross, dass die anfänglichen Auffälligkeiten zu weiteren Problemen führen können. Solche Folgeprobleme können beispielsweise soziale Ausgrenzung, Depression, Angst-, Ess- und Schlafstörungen, Süchte oder delinquentes Verhalten sein.

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«Das Wissen, dass man ADHS hat, kann schon helfen.»
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So können Tanja und Ramon seit der Diagnose ADHS besser akzeptieren, dass sie ein wenig anders sind. Sehen es nicht mehr als eine Unfähigkeit und lernen, damit zu leben. So schaffen sie für sich passende Umstände, um im Leben funktionieren zu können.

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«Teilweise nehme ich dann auch keine Telefonanrufe entgegen – heute wissen das meine Freunde auch.»
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Das hilft auch Familienmitgliedern oder Freunden von Betroffenen und schafft Verständnis.

Auch ohne Ritalin

Bei Kindern ist es zwar gang und gäbe, Ritalin zu verschreiben. Sie können sich dadurch in der Schule rasch besser konzentrieren und verlieren den Anschluss an den Schulstoff nicht. Gerade bei Erwachsenen ist es jedoch nicht unbedingt nötig, ein Leben mit Ritalin zu gestalten. Wobei das Medikament durchaus helfen kann dabei, sich besser kennenzulernen. So hat Tanja Di Tommaso herausfinden können, wie es sich anfühlen würde, wenn sie kein ADHS hätte.

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«Ich habe Ruhe und Strukturiertheit noch nie zuvor verspürt.»
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In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose nahm sie das Medikament regelmässig. Heute nur noch gelegentlich. Denn grundsätzlich fühlt sich Tanja durch ihr ADHS nicht eingeschränkt. So kümmert sich die dreifache Mutter und Ehefrau um den Haushalt, die fünf Katzen und produziert pro Jahr nebenbei noch 80 liebevoll genähte Steckenpferde.

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