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Neuabstimmung zu Heiratsstrafe «Das würde einen gewaltigen Präzedenzfall darstellen»

Die CVP wehrt sich mehr als zwei Jahre nach der Abstimmung ihrer Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe»: Seit Freitag ist klar, dass der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein mit falschen Zahlen gegen das Anliegen argumentierte. Nun will sie mit einer Beschwerde in verschiedenen Kantonen erreichen, dass der Urnengang wiederholt wird.

Das Vorgehen der CVP sei aussergewöhnlich, sagt Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser. Beschwerden vor Abstimmungen seien zwar häufig. Dass aber Jahre nach der Abstimmung eine Beschwerde eingereicht wird, ist sehr selten. Nach der Unternehmenssteuerreform II (USR II) ist das der erste grosse Fall.

Andreas Glaser

Staatsrechtsprofessor

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Andreas Glaser ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht unter besonderer Berücksichtigung von Demokratiefragen an der Universität Zürich und am Zentrum für Demokratie (ZDA) in Aarau.

SRF News: Wie sehen Sie die Chancen der CVP-Beschwerde?

Andreas Glaser: Die Chancen sind ausserordentlich gut, dass es hier erstmals zu einer Wiederholung der Volksabstimmung kommen könnte.

Warum?

Es liegt eine gravierende Fehlinformation vor, ein knapper Abstimmungsausgang mit einer geringen Stimmendifferenz von etwa 50‘000 Stimmen, und wir hatten sogar ein Ständemehr. Schliesslich gibt es keine Interessen oder Rechte, die der Wiederholung entgegenstehen würden.

Es sind also eigentlich alle Voraussetzungen erfüllt, dass diese Vorlage wiederholt werden könnte.

Sie sprechen von Unterschieden zur USR II, worin liegen diese?

Bei der USR II hatten wir eine Zustimmung. Die Unternehmen, die davon profitieren konnten, hatten sich schon darauf eingerichtet und Investitionen getätigt. Hier, bei der Initiative, haben wir eine Ablehnung, hier können wir wieder bei null anfangen. Niemand wird etwas weggenommen.

Was für eine Tragweite hätte eine Wiederholung der Initiative?

Das wäre auf Bundesebene ein einzigartiger Vorgang. In den Kantonen und auf Gemeindeebene hat man das immer mal wieder, dass Abstimmungen aufgehoben oder wiederholt werden. Aber auf Bundesebene gab es das bisher nie. Das würde schon einen gewaltigen Präzedenzfall darstellen.

Das würde einen grossen Anreiz schaffen, mit Beschwerden gegen Abstimmungen vorzugehen.

Deshalb zögert das Bundesgericht dann möglicherweise auch, zu diesem Punkt zu schreiten und zu sagen, dass die Abstimmung wiederholt werden muss. Denn das könnte weiteren Beschwerden bei anderen Abstimmungen führen. Das würde einen grossen Anreiz schaffen, mit Beschwerden gegen Abstimmungen vorzugehen.

Welches Risiko besteht bei einem Bundesgerichtsentscheid in dieser Frage?

Das Bundesgericht bewegt sich hier auf höchst politischem Terrain, wie es dies sonst nur in ganz wenigen Fällen tun muss. Es muss eine Entscheidung von Volk und Ständen aufheben und nochmals an die Urnen rufen.

Die Richter wissen, was auf dem Spiel steht.

Wir sind hier in einem Spannungsfeld der Gewaltteilung. Bundesrat und Parlament lehnten diese Initiative ab. Aber die Stände haben zugestimmt. Das Bundesgericht wird sich seiner imminenten politischen Bedeutung bewusst sein, die es für einmal hier hat.

Welche Folgen könnte die Wiederholung einer Abstimmung haben?

Man kann eine Abstimmung nie eins zu eins wiederholen. Und es könnte weitere solche Fälle einer Verrechtlichung der Demokratie geben, und dass vermehrt versucht wird, auch im Nachhinein noch Abstimmungen anzufechten. Das kann die Demokratie natürlich auch destabilisieren.

Wenn das Bundesgericht nun Nein sagt zur Beschwerde der CVP, wird es dann jemals eine Wiederholung einer Abstimmung geben?

Einen besseren Fall als diesen kann man sich eigentlich nicht denken. Die Voraussetzung laut bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt vor.

Ich würde die Prognose wagen: Wenn das Bundesgericht diesen Entscheid nicht aufhebt, dann ist kaum noch ein Fall denkbar, in dem es zu einer Aufhebung einer Volksabstimmung kommen könnte.

Das Gespräch führte Michael Spillmann.

«Tagesschau» 19:30 Uhr

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