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Pflege-Leiter schlägt Alarm «Ich habe noch nie so viele Ärzte und Pflegende weinen sehen»

Seit Ausbruch der zweiten Welle ist die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen stark angestiegen. Die Spitäler verlegen Patienten, verschieben Operationen und schaffen zusätzliche Intensivbetten. Doch die Auslastung bleibt hoch, und Ärzte und Pflegenden geraten an ihre Belastungsgrenze. Moderator Sandro Brotz hat in der Sendung «Arena» mit Martin Balmer, Leiter der Intensivmedizin am Kantonsspital Aarau, gesprochen.

SRF News: Herr Balmer, wo stehen Sie genau?

Martin Balmer: Wir stehen in einem Raum, der gestern noch Aufwachraum war, heute ist er Intensivstation. Gestern sind wir zu dem Punkt gekommen, an dem wir keine Intensivbetten mehr gehabt haben, und kein Patient, der hätte verlegt werden können. Wir haben entschieden, dass wir den Aufwachraum zur Intensivstation umbauen müssen. Und heute wird diese Station mit vier Intensivbetten betrieben. Und das mit dem gleichen Personal.

Uns unterstützen schon Kräfte aus der Anästhesie, aus dem Aufwachraum oder von den Bettenabteilungen. Das bedeutet dann aber auch eine Mehrbelastung für die Intensivpflegefachkräfte, die jene zusätzlichen Kräfte anleiten, unterstützten und die Hauptverantwortung dabei tragen.

Sie sprechen von einer Mehrbelastung. Schiebt man konkret also Doppelschichten?

Ja, das ist auch diese Woche vorgekommen. Wir haben am Dienstag beispielsweise praktisch innerhalb von einer Stunde drei schwerstkranke Covid-Patienten bekommen, die haben pro Patient über acht Stunden zwei Pflegende vollumfänglich in Anspruch genommen. Ich persönlich habe dann auch eine Schicht übernommen. Aber in der Mehrzahl machen das meine Kolleginnen und Kollegen, die länger bleiben. Jetzt haben wir noch mehr Betten aufgetan mit der gleichen Anzahl von Personal. Mit den Köpfen haben wir wachsen können, mit der Fachkompetenz aber nicht.

Mit den Köpfen haben wir wachsen können, mit der Fachkompetenz aber nicht.

Mögen sie noch, Herr Balmer? Sie und ihre Leute?

Die meisten Leute mögen nicht mehr. Sie sind müde, sie haben zu wenig Zeit sich zu erholen. Sie sehen die Pflegenden hinter mir in der Montur, die man auf einer Covid-Station trägt – mit FFP2-Maske, mit Schürze. Nach 30 Minuten unter diesem Schutzkittel sind sie bachnass. Das ist eine zusätzliche Belastung und macht auch zusätzlich müde.

Die Überlastung hat aber noch zu anderem geführt: Ich habe noch nie in den 30 Jahren Intensivmedizin, die ich betreibe, Ärzte, Pflegende so viel weinen sehen. Weil sie nicht mehr mögen oder sehen, dass sie die Qualität, die sie bei ihrer Arbeit erbringen wollen, nicht leisten können. Vor allem sehen sie auch kein Ende.

Und wenn sie nach draussen schauen und wahrnehmen, dass viele immer noch sagen, Covid sei ein Joke, sei gar nicht so schlimm, dann trifft uns das noch doppelt. Oder wenn die Schutzmassnahmen, die man festgelegt hat, nicht eingehalten werden: Schauen Sie mal, wie locker so eine Schutzmaske getragen wird, oftmals ist die Nase nicht geschützt. Das sind Sachen, die uns den Kopf schütteln lassen, aber auch traurig und wütend machen.

Wenn Sie wahrnehmen, dass viele immer noch sagen, Covid sei gar nicht so schlimm, dann trifft uns das noch doppelt.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, an die Politik, die Entscheidungsträger, die Verantwortungsträger eine Botschaft zu richten. Welche wäre das?

Zum einen: Vergesst uns nicht! Vergesst nicht, was ihr hinter mir im Video seht! Denkt daran, die Schutzmassnahmen einzuhalten.

Was machen Sie als Nächstes?

Ich gehe nachher bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von den drei Intensivstationen vorbei. Ich habe es vorher gesagt: Viele von meinen Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Professionen halten das auf ihrer Gefühlsebene nicht aus. Da geht es auch darum, die Leute abzuhören, abzuholen in ihrem Gefühlsstand, zu motivieren, aber auch einfach danke zu sagen.

Gestern am Abend haben wir entschieden, dass wir die Station, in der wir uns befinden, auftun. Wir haben eine Stunde später im Whatsapp-Chat geschrieben, dass wir für die nächsten zehn Tage unbedingt Leute brauchen. Trotz der Übermüdung, trotz der Überforderung haben wir innerhalb von ein paar Stunden so viele Rückmeldungen wie nötig gekriegt, von Menschen, die diese Dienste übernehmen wollen. Ein so grosses Engagement, das muss honoriert werden.

Das Gespräch führte Sandro Brotz.

Arena, 18.12.2020, 22.25 Uhr ; 

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