Das Wichtigste in Kürze
- Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen fordern, die Entschädigungsverfahren zu beschleunigen.
- Rund 9000 Personen haben ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag eingereicht.
- Die Zeit läuft gegen die Opfer: 112 Personen sind seit Einreichung des Gesuchs bereits verstorben.
- Nun kündigt der Bund an, die Bearbeitung der Gesuche ein Jahr vor der gesetzlich vorgesehenen Frist abzuschliessen.
Kind sein durften sie nie. Zehn-, wenn nicht Hunderttausende wurden in der Schweiz bis in die 1980er Jahren verdingt, weggesperrt, versorgt – mit dem Segen des Staates. Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erhalten seit diesem Frühling Geld für das erlittene Leid. 25 000 Franken pro Person, falls das Gesuch vom Bundesamt für Justiz gutgeheissen wird.
Auch die 80-jährige Rita Soltermann teilt das Schicksal. Sie kam als Verdingkind auf einen Emmentaler Hof, weg von ihren Geschwistern und ihrer Mutter. Die Pflegeeltern schlugen sie und nutzten sie aus als Magd. Rita Soltermann hat heute gute Chancen das Geld zu erhalten, dennoch misstraut sie dem Staat: «Viele Betroffene sind alt oder krank. Sie bräuchten das Geld sofort. Es ist nicht richtig, dass die Behörden warten, bis noch mehr sterben», sagt Soltermann, die letztes Jahr eine Lungenembolie erlitten hat.
Bereits 112 Todesfälle
Der Bund behandelt die Gesuche von Hochbetagten, Schwerkranken oder von Opfer in prekären Situationen prioritär. Die Zeit läuft aber gegen die Betroffenen: bislang sind bereits 112 Personen seit der Einreichung des Gesuchs verstorben. Das Geld fliesst zwar in die Erbmasse, die Opfer selbst können aber nicht mehr von der Entschädigung profitieren.
Bis März 2021 sollen die Betroffenen, deren Gesuch gutgeheissen wurde, ausbezahlt werden. Dies sieht das Gesetz so vor. Vielen dauert es zu lange. Druck kommt jetzt von den Initianten der Wiedergutmachung, aus der Westschweiz sowie von Vereinen. Robert Blaser vom Verein «FremdPlatziert» kritisiert den Bund. Es könne nicht sein, dass schwerkranke Betroffene die Auszahlungen nicht mehr erleben würden. «Das macht mich wütend», so Blaser gegenüber der «Rundschau». Die Prüfung der Gesuche müsse beschleunigt werden. Viele Opfer würden die Verfahren als zusätzliche Schikane empfinden.
Bund will schneller vorwärtsmachen
Luzius Mader vom Bundesamt für Justiz weist die Vorwürfe zurück. «Wir brauchen ein Arztzeugnis. Nur eine Zeile, dass sich der Gesundheitszustand des Gesuchstellers verschlechtert hat, darf uns nicht genügen», erklärt Mader. Zwar entscheide man im Zweifelsfall für die Opfer, aber der Bund müsse die Gesuche seriös prüfen, um ein gerechtes Verfahren zu garantieren.
«Wir haben ein Element unterschätzt», räumt Mader ein, der die Kommission leitet, die zu Härte- und Grenzfällen beim Solidaritätsbeitrag Stellung nimmt. «Die telefonischen, persönlichen Kontakte mit den Gesuchstellern sind sehr zeitintensiv.» Nun reagiert der Bund: Er stockt das Personal 11 auf 16 Personen auf.
An der «Rundschau»-Theke gibt Mäder erstmals bekannt: «Die Bearbeitung der Gesuche wird sicher ein Jahr früher abgeschlossen sein.» In den ersten fünf Monaten seien bereits 2500 der 9000 Gesuche bearbeitet worden. «In 2100 Fällen kam es bereits zu Auszahlungen».
Anmeldefrist abgelaufen
Robert Blaser vom Verein «FremdPlatziert» sieht auch ein weiteres Problem: die festgelegte Frist zur Einreichung der Gesuche. Diese lief Ende März 2018 ab. Seither haben sich nachträglich 40 Personen beim Bund angemeldet. Blaser unterstützt Betroffene nach wie vor bei ihrer Anmeldung. Er sagt, das Leid verjähre nicht: «Der Staat hat uns geschädigt. Nun ist er in Bringschuld».
Luzius Mader vom Bundesamt für Justiz hat Verständnis für das Misstrauen. Viele Betroffene hätten schlechte Erfahrungen mit den Behörden gemacht. Man arbeite mit Hochdruck, um die Verfahren so rasch wie möglich abzuschliessen. 2500 von 9000 Gesuchen sind bereits bearbeitet worden.