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Stalking-Opfer Anna Müller erzählt von Hilflosigkeit und Ohnmacht
Aus Rendez-vous vom 14.11.2017. Bild: Imago
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 30 Sekunden.
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Wenn Liebe zum Wahn wird «Der Stalker will das Opfer dazu bringen, auch mal so zu leiden»

Hilflos und ohnmächtig: So fühlen sich die Opfer. Stalking macht ausserdem krank. Es löst chronischen Stress aus. Reporterin Sabine Gorgé hat mit einer Frau über ihr Martyrium gesprochen. Und zwei Experten erklären das Phänomen Stalking.

Die Einwilligung, ihre Geschichte zu erzählen, gibt die Frau nur unter der Voraussetzung, dass ihr Name geändert wird. Es ist die Geschichte einer Frau, die gestalkt wird. Nennen wir sie Anna Müller.

Anna Müller begegnet ihrem Stalker bei der Arbeit. Die junge Frau arbeitet mit Patienten, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Einer von ihnen will schnell auch Kontakt mit ihr als Privatperson: «Er wollte mit mir ausgehen, etwas trinken gehen.»

Der Mann beginnt, ihr Briefe zu schreiben. Zwei- bis dreimal pro Woche. Sie weist ihn zurück, vergeblich. Ihre Vorgesetzten versuchen, sie abzuschirmen. Der Patient wird einer anderen Stelle zugewiesen. Und die Briefe wandern direkt in den Abfall.

Doch als sie eines Tages nach der Arbeit das Gebäude verlässt, steht er da und schaut sie an. «Ich fühlte mich schutzlos, hatte keine Handlungsmöglichkeit.»

Die Polizei rät, nichts zu tun

Anna Müller kündigt, zieht in eine andere Gegend. Doch sie wird den Stalker nicht los. Nun verfolgt er sie via Facebook – überschüttet sie mit Komplimenten, aber auch mit abstossenden Dingen sexuellen Inhalts, bis hin zu versteckten Drohungen: Botschaften eines psychisch Kranken.

Sie geht zur Polizei – dort erhält sie den Ratschlag, möglichst nichts zu tun, um den Stalker nicht weiter zu provozieren.

Was mache ich, wenn er plötzlich vor mir steht? Ich fühlte mich wie paralysiert.
Autor: Anna MüllerStalking-Opfer

Das Stalking belastet Anna Müller nicht nur psychisch, es hat auch finanzielle Folgen. In Ruhe lässt er sie nämlich nur, wenn sie keine Spuren im Internet hinterlässt, das heisst, wenn sie nicht arbeitet. Denn sobald sie eine neue Stelle antritt, ist ihre Arbeits-E-Mail-Adresse im Netz und damit der Stalker wieder da.

Und er bedroht Anna weiter. «Er schreibt zwar nicht direkt: Ich bringe dich um. Dennoch gibt es Passagen, die klar als Bedrohung zu verstehen sind», sagt Anna.

Stalker wird schliesslich zu einer Busse verurteilt

Mehrmals nimmt sie eine Auszeit. Trotzdem versucht sie, sich ihr Leben so wenig wie möglich vom Stalker bestimmen zu lassen. Dann spitzt sich die Situation zu: Anna Müller gibt eine Kleinanzeige auf. Dadurch findet der Stalker heraus, wo sie wohnt – und jetzt ist die Bedrohung nicht mehr nur im Internet, sondern ganz nah. Der Mann taucht in ihrem Wohnquartier auf.

Anna Müller fühlt sich beobachtet, nicht mehr sicher. «Die Angst vor einer unerwarteten Begegnung war immer präsent. Was mache ich, wenn er plötzlich vor mir steht. Ich fühlte mich wie paralysiert.»

Sie geht erneut zur Polizei und zeigt diesmal ihren Stalker an. Er wird wegen sexueller Belästigung und Drohung zu einer Busse verurteilt.

Das war vor einem halben Jahr. Seither hat Anna Müller nichts mehr von ihm gehört – doch die fast zehn Jahre Stalking haben tiefe Spuren hinterlassen: Sie traut der Ruhe noch nicht.

Porträts
Legende: Die Mannheimer Psychotherapeutin Christine Gallas und der Stalking-Experte Wolf Ortiz-Müller im Gespräch mit SRF News. SRF

«Erlittene Ohnmacht wird zur Machtphantasie»

Eine einzelne Nachricht an jemanden, für den man schwärmt, ein Telefonanruf beim Nachbarn, das Abpassen eines Schwarms an der Bushaltestelle, die Hoffnung auf Versöhnung mit der Ex – das kennen alle. Wann aber wird Kontaktaufnahme zum Stalking? Und wer kann zum Täter werden, wer zum Opfer?

Zwei Experten geben Auskunft über ein Thema, das erstaunlich viele Menschen betrifft.

SRF News: Wo beginnt Stalking?

Wolf Ortiz-Müller: Im Gegensatz zu einem Diebstahl oder einer Körperverletzung handelt es sich nicht um ein einmaliges Handeln, sondern um hunderte oder tausende von Einzelhandlungen, die in dieser Kombination zu einer enormen Belastung des Opfers führen. Das sind tausende von E-Mails, das ist das tägliche Telefonklingeln, das immer wieder an einem Ort stehen, wo man das Opfer abpassen kann. Und das zermürbt ganz furchtbar.

Christine Gallas: Viele Definitionen von Stalking beinhalten auch, dass dieses Nachstellen negative Konsequenzen für das Opfer haben muss: Dass es Angst auslöst, dass es die Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt.

Und was löst das beim Täter aus? Gibt es ihm einen Kick, Macht über das Opfer auszuüben?

Ortiz-Müller: Es gibt solche, die sich aus einer bestehenden oder imaginären Beziehung zurückgewiesen und sich deshalb gekränkt und ohnmächtig fühlen. Diese erlittene Ohnmacht setzen sie dann um in eine Machtphantasie, in der sie das Opfer dazu bringen wollen, auch mal so zu leiden, wie sie es vermeintlich tun.

Also lieber eine schlechte Rolle im Leben der Angebeteten spielen als gar keine?

Ortiz-Müller: Stalker haben oft ein sehr geringes Selbstbewusstsein. Sie können nicht einfach sagen «dann suche ich mir halt eine andere», weil sie subjektiv so viel in eine Beziehung investiert haben. Oder sie können sich auch nicht sagen: Wenn der Rechtsanwalt mich nicht gut vertreten hat, dann schaue ich mal, ob ich einen anderen finde. Sie erleben dieses «nicht gut vertreten» aus ihrer Sicht als eine enorme Kränkung für ihr eigenes Selbst, als wären sie nichts wert, als würden sie keine Beachtung verdienen, als würde ihnen niemand zu ihrem Recht verhelfen wollen. Und dann setzen sie das um in einen Racheimpuls. Und sagen sich: «Indem ich stalke, zeige ich, dass ich noch wichtig bin für andere».

Dann geht es nicht mehr um das Interesse an der Person, sondern darum, ihr schaden zu wollen…

Ortiz-Müller: Manchmal sind es Versuche, eine Versöhnung zu erlangen oder nochmals auf sich aufmerksam zu machen. Wenn diese Versuche nicht erwidert werden, dann kippt es in Rachegedanken und manchmal sogar in einen Vernichtungswunsch.

Sind Stalker krank?

Gallas: Man geht davon aus, dass nur ein kleiner Bruchteil der Stalker tatsächlich eine psychische oder psychiatrische Störung aufweist und aufgrund dieser Störung auch vermindert schuldfähig ist. Die grosse Mehrheit der Stalker ist aber durchaus strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Was sind das für Leute?

Ortiz-Müller: Das sind Menschen aus allen Schichten und allen Altersstufen. Wir beraten Arbeitslose. Wir haben verheiratete Geschäftsmänner mit Familie, die eine Ex-Affäre stalken.

Es gibt auch weibliche Stalkerinnen. Wie unterscheiden sich diese von männlichen Tätern?

Ortiz-Müller: Es gibt kein klares Muster oder Profil davon, wie Frauen oder wie Männer stalken. Es gibt auch sehr gewalttätige Frauen oder Mordversuche und Tötungsdelikte am Ende eines langen Stalkingvorgangs bei Frauen. Das kann man nicht nur den Männern zuschreiben.

Wie sieht es auf Opferseite aus? Reagieren betroffene Frauen anders als Männer?

Gallas: Nein. Das würde man so denken, aber Studien zeigen, dass die gesundheitlichen Auswirkungen von Stalking bei männlichen und weiblichen Opfern vergleichbar sind. Frauen leiden nicht mehr unter Stalking als Männer. Diese ganzen Gefühle von Ohnmacht, sich ausgeliefert fühlen und Hilflosigkeit sind bei Männern ähnlich zu beobachten.

Ortiz-Müller: Und trotzdem würde ich sagen, dass Männer manchmal mehr Schwierigkeiten haben, sich als Opfer zu outen. Das gehört zur männlichen Geschlechtsrolle im traditionellen Sinn.

Fragen sich Opfer, ob es an ihnen liegt?

Gallas: Diese Gedanken machen sich beide. Auch Frauen fragen sich: «Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich zu viele Hoffnungen gemacht?» Sie kommen mit Scham- und Schuldgefühlen zu uns.

Wie sehen die Leiden der Opfer sonst noch aus?

Gallas: Die Unvorhersehbarkeit: Wann passiert wieder etwas? Steht er vor der Tür? Verfolgt er mich? Ruft er bei der Arbeit an? Das setzt Betroffene in einen erhöhten Erregungszustand. Das ist chronischer Stress, der über Monate, manchmal Jahre dauert. Und entsprechend zeigen sich dann auch Stresssymptome: Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Magen- oder Darmprobleme, depressive Symptome, erhöhte Wachsamkeit.

Wie kann man sich gegen Stalking schützen?

Gallas: Die wichtigste Anti-Stalking-Regel ist, unmissverständlich dem Stalker klarzumachen: «Ich wünsche keinen weiteren Kontakt, in keiner Form.» Das geschieht am besten schriftlich. Und in der Folge tatsächlich alle, wirklich alle Kontaktaufnahmeversuche des Stalkers zu unterbinden, zu vermeiden und nicht darauf zu reagieren. Das klingt einfach, ist es aber nicht.

Wenn man beim 50. Telefonanruf doch abnimmt, dann war alles umsonst?

Ortiz-Müller: Stalker wollen vor allem merken, dass ihre Aktionen eine Gegenreaktion auslösen. Je mehr eine Reaktion ausbleibt, je unsichtbarer sich ein Opfer macht, desto mehr verlieren Stalker das Interesse oder die Hoffnung, dass etwas zurückkommt.

Und weitere Massnahmen?

Ortiz-Müller: Die Gestalkten müssen einen individuellen Schutzplan erstellen – am besten in Zusammenarbeit mit einer spezialisierten Beratungsstelle. Herausfinden, was ist für das spezielle Profil meines Stalkers oder meiner Stalkerin die richtige Verhaltensweise.

Was können Angehörige und Freunde tun?

Gallas: Verständnis zeigen. Zuhören. Betroffene ermuntern, Hilfe anzunehmen. Sie zur Polizei begleiten.

Wann ist das nötig?

Gallas: Wir empfehlen, sich relativ frühzeitig an die Polizei zu wenden. Wenn die Betroffenen bereits klar mitgeteilt haben, dass sie keinen Kontakt mehr wünschen, das Verhalten des Täters aber nicht aufhört. Eine beträchtliche Anzahl der Stalker stellt das Stalking ein, wenn die Polizei ihn aufsucht oder vorlädt und erklärt, dass sein Verhalten nicht toleriert wird.

Wann wird ein Fall strafgesetzlich relevant? Wann kann man klagen?

Ortiz-Müller: Das hängt von der Gesetzgebung in den einzelnen Ländern ab.

In der Schweiz gibt es tatsächlich kein Stalkinggesetz wie zum Beispiel in Deutschland. Ist das ein Versäumnis?

Gallas: Es ist sehr gut, dass es in Deutschland im Strafgesetzbuch Stalkingparagraphen gibt, um dieses Phänomen tatsächlich einzugrenzen und juristisch zu definieren. In der Schweiz müssen heute andere Tatbestände bemüht werden: Nötigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung – was häufig im Rahmen von Stalking auftritt, aber das Verhaltensmuster an sich nicht definiert. Das fände ich aber wichtig.

Ortiz-Müller: Es ist auch eine Normverdeutlichung, die den Polizei- und Strafbehörden andere Spielräume eröffnet, um Täter oder Täterinnen auffordern zu können, an speziellen Programmen teilzunehmen oder sich an Beratungsstellen oder Fachverbände zu wenden.

Sie bieten solche Beratungen für Stalker an. Ist Tätern zu helfen auch eine Form von Gewaltprävention?

Ortiz-Müller: Ja, weil ganz viele Stalker dazu neigen, beim nächsten Partner oder bei der nächsten Partnerin dasselbe Verhalten wieder zu zeigen.

Das Gespräch führte Marc Lehmann.

Rechtlicher Grauraum in der Schweiz:

Einen Straftatbestand Stalking gibt es in der Schweiz nicht, und somit kann es auch nicht als Ganzes angezeigt werden. Strafrechtliche Sanktionen gegen Stalker sind trotzdem möglich, denn die einzelnen Handlungen können durchaus strafbar sein. So können Täter wegen Drohung, Nötigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch oder Ehrverletzung strafrechtlich verfolgt werden. Und wer permanent lästige oder beunruhigende Telefonate tätigt, der kann wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage belangt werden.
Oft sind aber die störenden Handlungen nicht stark genug, um diese Straftatbestände zu erfüllen – und es ist für die Opfer schwierig, den Nachweis dafür zu erbringen. Die Folge: Verfahren werden eingestellt, oder es kommt zum Freispruch des Täters.
Dem Bundesrat sind die Probleme bewusst, dennoch hat er parlamentarische Vorstösse für einen Stalking-Artikel abgelehnt. Er setzt lieber auf Verbesserungen im Bereich des Zivilrechts.
Zusätzlich haben die meisten Kantone polizeirechtliche Bestimmungen, die eigentlich zur Bekämpfung häuslicher Gewalt dienen sollen. In einzelnen Kantonen gelten sie aber auch ausdrücklich für Stalking-Opfer.

Was ist Stalking? Wer sind die Opfer und Täter?

Der Begriff Stalking kommt vom englischen Wort «to stalk», was heranpirschen oder auch anschleichen bedeutet. Ursprünglich in der Jägersprache verwendet, fand in den 1980er-Jahren der Begriff Verwendung für das Verfolgen einer Person. Heutzutage wird darunter das vorsätzliche und wiederholte Verfolgen, Belästigen und Bedrohen einer Person verstanden, das beim Opfer Angst auslöst und dessen physische oder psychische Unversehrtheit direkt, indirekt, kurz- oder langfristig bedroht oder beeinträchtigt. Eine einheitliche Definition gibt es nicht, da es sich um verschiedene (teilweise harmlose) Einzelhandlungen handelt, die in ihrer Summe, Frequenz und Dauer eine Straftat darstellen können.
Stalking kann jeden treffen. Allerdings werden deutlich mehr Frauen zum Opfer. Ein erhöhtes Risiko, gestalkt zu werden, haben Personen, die wegen ihres Berufs engen Kontakt zu Menschen haben.
Die Mehrheit der Täter (rund 80 Prozent) ist männlich. Meist sind es verlassene Partner. Doch auch Nachbarn, Mitarbeitende, Kundinnen und Kunden oder Fans können Stalker sein. Meist sind sie dem Opfer bekannt.
Für die gesamte Schweiz gibt es keine Zahlen für die Verbreitung des Phänomens. Umfragen in anderen Ländern haben ergeben, dass etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen einmal im Leben von Stalking betroffen sind.

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