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Zweiter Weltkrieg In der Schweiz interniert – und dankbar dafür

Mehrere zehntausend Soldaten marschieren am 20. Juni 1940 über die französisch-schweizerische Grenze im Jura und suchen Schutz in der neutralen Schweiz. Einer davon ist Włodzimierz Cieszkowski, 16 Jahre alt, Soldat in der 2. Polnischen Schützendivision: «In der Schweiz wurden wir herzlich empfangen. Soldaten, aber auch ganz gewöhnliche Leute, haben uns zu Trinken und zu Essen gebracht: Milch, Wasser, Brot und sogar Käse.»

Für Cieszkowski und seine Truppe ist der Übertritt in die Schweiz die Rettung. Die deutsche Wehrmacht hatte sie eingekesselt. Hätte die Schweiz sie nicht über die Grenze gelassen und interniert, sie wären deutsche Kriegsgefangene geworden.

Internierung in der Schweiz 1940 bis 1945

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Die Schweiz hat von 1940 bis 1945 über 100'000 Militärangehörige aller Kriegsparteien als Internierte aufgenommen. Die Internierten wurden entwaffnet und mussten sich an strenge Regeln halten. So galt für sie ein Kontaktverbot mit der Zivilbevölkerung.

Die Internierten – mit Ausnahme der Offiziere – durften von den Behörden zu Arbeitseinsätzen verpflichtet werden. In der Schweiz wurden sie vor allem im Strassenbau und in der Landwirtschaft eingesetzt. Sie sollten mithelfen, die Ziele der «Anbauschlacht» zu erreichen.

Die 12'500 polnischen Internierten blieben besonders lange in der Schweiz, weil in ihrer Heimat weiter Krieg herrschte und sie sofort in Kriegsgefangenschaft geraten wären. Hunderte polnische Internierte versuchten allerdings aus der Schweiz zu fliehen, um weiter gegen die Deutschen zu kämpfen.

Mit 16 in die Armee

Włodzimierz Cieszkowski ist eigentlich viel zu jung für seine polnische Soldatenuniform. Nur neun Monate vorher war er noch Gymnasiast in Warschau. Zusammen mit seinen Klassenkameraden wurde er Anfang September 1939 – kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen – nach Osten evakuiert. Dort, so die Überlegung, würden die deutschen Bomber nicht so rasch zuschlagen.

Włodzimierz Cieszkowski vor Blumen
Legende: Włodzimierz Cieszkowski heute – in seinem Garten bei Warschau. SRF / Roman Fillinger

Doch statt in Sicherheit landete der Teenager durch viele Zufälle als Fahrer bei einer polnischen Sanitätseinheit. Den Fahrausweis hatte er bereits. Als von Osten auch noch die Russen in Polen einmarschierten, schlug sich Cieszkowski über Rumänien, Jugoslawien und Italien bis nach Frankreich durch. In Paris, so sein ursprünglicher Plan, würde er das Gymnasium beenden. «Aber als ich dann schliesslich in Frankreich ankam», sagt der heute 96-Jährige mit den stahlblauen Augen, «habe ich mich als 18-Jährigen ausgegeben und freiwillig als Soldat gemeldet.»

Das Schweizer «Concentrationslager»

Sein Einsatz bei der 2. Polnischen Schützendivision endet ein paar Monate später an der Schweizer Grenze. Der Teenager-Soldat muss seine Waffe abgeben und wird zusammen mit 6000 anderen Polen im «Concentrationslager» im bernischen Büren an der Aare interniert – Holzbaracken, ein Wachturm und Stacheldraht. Schon bald kommt es zu Spannungen zwischen den internierten Polen und ihren Schweizer Bewachern. Sogar Schüsse fallen.

Historisches Foto von Internierten auf einem Acker
Legende: Polnische Internierte beim Kartoffeln pflanzen: Viele der Internierten mussten bei der sogenannten Anbauschlacht mithelfen. Keystone

Den Schweizer Behörden sind die vielen polnischen Soldaten an einem Ort ein zu grosses Risiko. Zumal sich abzeichnet, dass in Polen der Krieg nicht so bald vorbei sein wird und die Internierten länger in der Schweiz bleiben werden.

Die internierten Polen werden übers ganze Land verteilt, die meisten von ihnen zu Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft oder im Strassenbau verpflichtet. Sie sind ein willkommener Ersatz für die vielen Hände, die fehlen, weil hunderttausende Schweizer Aktivdienst leisten.

«Der Schweiz dankbar»

Włodzimierz Cieszkowski muss nur in den Schulferien arbeiten. Er kommt in ein Internat im Zürcher Oberland, macht in der Schweiz die Matura, beginnt an der Universität Zürich später ein Medizinstudium. Noch heute, fast 80 Jahre später, spricht Cieszkowski gut Deutsch.

Mann in Soldatenuniform an Rednerpult
Legende: Im Juni 2015 wurde im jurassischen Goumois, wo die polnischen Soldaten über die Grenze kamen, den Internierten gedacht. Mit dabei war auch Włodzimierz Cieszkowski. ZVG

Noch heute ist er der Schweiz dankbar: «Schon 1940, ganz zu Beginn der Internierung, durften einige von uns zur Schule oder zur Universität. Und die Arbeit, welche die anderen verrichten mussten, war geregelt und entlohnt – anders als in einem Kriegsgefangenenlager.»

«Mädchen waren besonders streng verboten»

Frei waren die Internierten in der Schweiz allerdings nicht. Sie durften sich nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten aufhalten, durften keine Zivilkleidung tragen. Und vor allem war den Internierten der Kontakt zur Schweizer Zivilbevölkerung weitgehend verboten: «Am Anfang durften wir gar keinen Kontakt mit Zivilpersonen haben», sagt Cieszkowski. «Mädchen waren besonders streng verboten.»

Doch das Kontaktverbot lässt sich nicht durchsetzen. Polnische Internierte leben und arbeiten Seite an Seite mit Schweizer Bauernfamilien. Und auch die Gymnasiasten in Cieszkowskis Internat finden Wege, um das Kontaktverbot zu umgehen.

Die Augen unter den buschigen weissen Brauen blitzen verschmitzt, wenn Cieszkowski von den heimlichen Treffen von damals erzählt: «Wir haben gewartet bis zum Lichterlöschen um 22 Uhr. Dann haben wir uns davongeschlichen und die Schweizer Fräulein am Waldrand oder sonst irgendwo getroffen, wo niemand uns sehen konnte.»

Für einen Streich ins Straflager

Zielsicher zupft Cieszkowski eine Fotografie aus einem hohen Stapel Papier: Zwei bewaffnete Schweizer Wachmänner vor einem Stacheldrahtzaun, zwei junge Polen dahinter. Cieszkowski tippt auf den jüngeren Polen: «Das bin ich im Straflager Kalchrain. Einen Monat waren wir dort eingesperrt und mussten arbeiten.» Das ist die Strafe dafür, dass er und seine Kameraden versucht haben, einen Internierten zu decken, der am Pfäffikersee beim Rendezvous mit einer Schweizerin erwischt worden war.

Je länger die polnischen Internierten in der Schweiz sind, desto weniger lässt sich das Kontaktverbot durchsetzen. Am Ende des Kriegs haben polnische Internierte fast 370 uneheliche Kinder in der Schweiz gezeugt und über 300 Schweizerinnen geheiratet. Mehrere hundert internierte Polen bleiben auch nach Kriegsende in der Schweiz.

Die Flucht aus der sicheren Schweiz

Cieszkowski hingegen macht 1944 das, was den Internierten besonders streng verboten ist: Der inzwischen 20-Jährige flieht. Bei Genf schlägt er sich über die Grenze zurück nach Frankreich: «Ich sass in der sicheren Schweiz und wusste, andere junge Polen kämpfen für unsere Heimat. Da wollte ich mithelfen.»

Er schliesst er sich dem französischen Widerstand an, arbeitet später als Übersetzer für die polnische Heimatarmee. Erst 1946 kehrt er in das von den Nazis völlig zerstörte Warschau zurück.

General Guisan an der Wand

Heute lebt Cieszkowski etwas ausserhalb der polnischen Hauptstadt bei seinem einzigen Sohn. Nach dem Tod seiner Frau letzten November bleibt dem pensionierten Vize-Spitaldirektor nur noch eine Rente. Und die sei zu tief, um eine eigene Wohnung zu bezahlen, sagt er.

Włodzimierz Cieszkowski zeigt die Rückseite eines Bilderrahmens
Legende: Włodzimierz Cieszkowski mit einer persönlichen Widmung von Bundespräsident Ueli Mauerer. SRF / Roman Fillinger

In seinem karg eingerichteten Schlafzimmer nimmt Cieszkowski zwei Fotografien von der Wand. Er will die Widmung von Bundespräsident Ueli Maurer auf der Rückseite zeigen. Und eine Schwarzweissfotografie von General Guisan. Die Schweiz ist präsent geblieben im Leben des 96-Jährigen. Trotz eingeschränkter Freiheit, trotz seiner inneren Unruhe hat er die Zeit als Internierter in glücklicher Erinnerung: «Wissen Sie, überall war Krieg damals. In der Schweiz war unser Leben zu siebzig Prozent normal.» Und siebzig Prozent Normalität war für einen jungen Polen zu dieser Zeit eine ganze Menge.

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