Auf dem Dorfplatz des Bündner Dorfs Vella stehen Inventarisator Sebastian Geisseler und sein Chef Giusto Aurora. Die beiden ISOS-Experten des Bundes sind am Morgen aus dem fernen Bern angereist.
Giusto Aurora hält ein Klemmbrett in der Hand, darauf die ISOS-Karte aus dem Jahr 1985. Die Quartiere des Dorfs sind mit fetten Linien umrandet und mit Ziffern versehen. Ziel der Re-Inventarisierung nach über 30 Jahren ist es, die ISOS-Karte samt Beschreibung auf den neusten Stand zu bringen und festzuhalten, was erhaltenswert ist.
Sebastian Geisseler, in der Hand einen dicken Packen Unterlagen zu Vella, bleibt vor alten Holzställen und Wohnhäusern stehen. «Das ist ein guter Ort um zu zeigen, was die räumlichen Qualitäten dieses Ortes sind».
«Räumliche Qualitäten» – ein typischer ISOS-Begriff, um ein Ortsbild zu beschreiben. Giusto Aurora zeigt auf die kleinen Gärten und den Rasen zwischen den Häusern hier im Zentrum von Vella. Sie erzählen von der bäuerlichen Vergangenheit des Dorfs: «Es ist eine Qualität, wenn man einem Ort seine Geschichte ansieht. Und das ist hier der Fall».
Für die ISOS-Experten ist deshalb klar: Für den historischen Dorfkern gilt weiterhin das «Erhaltungsziel A». Die Häuser in diesem Teil des Dorfs sind laut den Fachleuten zentral für das Dorfbild und sollten von der Materialität her erhalten bleiben, auch bei einem Umbau. Als gelungenes Beispiel bezeichnen Geisseler und Aurora einen Stall im alten Dorfkern, dessen äussere hölzerne Hülle noch steht.
Der umgebaute Stall ist quasi ein Haus im Haus. «Der Umbau verleugnet die Vergangenheit des Gebäudes nicht, sondern macht sie transparent», erklärt Giusto Aurora. Wichtige Elemente des früheren Stalls wie die Rampe seien beim Umbau integriert worden.
Keine Erfolgsgeschichte
Seit 2016 ist die ganze Schweiz im ISOS-Inventar erfasst mit insgesamt 1274 Ortsbildern. Doch hat das ISOS als Instrument gebracht was man sich erhoffte, nämlich den Schutz und die Pflege von architektonisch einzigartigen Dorfbildern?
Marcia Haldemann, Leiterin der ISOS-Abteilung beim Bund, zeichnet ein ernüchterndes Fazit: «Wenn das ISOS wirklich eine Erfolgsgeschichte wäre, würde man das in der heutigen Siedlungslandschaft erkennen. Wenn man sieht, wie die heutige Schweiz aussieht, ist es an vielen Orten nicht mehr so überzeugend punkto Qualität.»
Und trotzdem, nach einem rund zweistündigen Rundgang durch Vella zieht Chef-Inventarisator Giusto Aurora ein positives Zwischenfazit: «Es ist keine Frage, dass Vella ein Ortsbild von nationaler Bedeutung bleibt». Bis 2021 sollen alle 114 Ortsbilder von Graubünden überarbeitet sein und dann geht die Arbeit weiter. Mit insgesamt 20 Jahren rechnet der Bund, bis alle Kantone ein zweites Mal re-inventarisiert worden sind.
SRF1, Rendez-vous, 12:30 Uhr / Regionaljournal Graubünden, 17:30; habs