Sanft wirkt der 19-Jährige, den wir im Regionalgefängnis in Thun besuchen. Er ist in Untersuchungshaft, also noch nicht verurteilt. Aufgewachsen ist er in Albanien, er machte eine Lehre als Automechaniker. Eine Woche war er in der Schweiz auf freiem Fuss. Geriet er auf der Suche nach Geld auf die schiefe Bahn? Wir wissen es nicht.
Michel Jaccard besucht ihn an diesem Nachmittag für eine Stunde Deutschunterricht.
Der junge Mann ist lernfreudig und kämpft sich geduldig durch die deutsche Grammatik. «Vergessen – er vergesst? Nein, er vergisst.» Wenn ihn ein neues Wort besonders interessiert, notiert er es sich. «Hausaufgaben» zum Beispiel. Solche macht er, wenn der Lehrer weg ist, halt in der Zelle statt zuhause.
Mir gefällt die deutsche Sprache.
Er spricht recht gut Englisch und auch schon etwas Deutsch. «Für mich ist das die wichtigste Sprache Europas», sagt der junge Mann. «Und Deutsch gefällt mir.»
Grosse Träume in engen Mauern
Der Mann weiss nicht, ob er ausgeschafft wird, oder was mit ihm nach der Untersuchungshaft passiert. Es gilt die Unschuldsvermutung, bisher wurde er weder verurteilt noch freigesprochen.
Als Erstes möchte ich unbedingt meine Eltern besuchen.
Er träumt davon, in der Schweiz Medizin zu studieren. Der gelernte Automechaniker hat sich schon immer dafür interessiert – seine Mutter ist Kinderkrankenschwester. Er weiss nicht, wie realistisch dieser Traum ist. Ihm ist aber klar: «Ich muss einen Ort finden, um mein Leben neu zu beginnen.»
Er brauche eine neue Ausbildung, einen Job und ein Zuhause. Doch jetzt wird er von der Realität eingeholt – die Deutschstunde ist vorbei und er wird zurück in seine Zelle gebracht.
Der Gefängnis-Lehrer
Der junge Mann hätte sein Schüler sein können, wäre er hier aufgewachsen, sagt Michel Jaccard. Er selbst ist pensioniert und engagiert sich jetzt freiwillig im Gefängnis als Deutschlehrer.
Eine Stunde pro Woche besucht er einen Gefangenen. «Ich begleite die Menschen auf einem kleinen Stück ihres Weges.» Ob die Person die Woche darauf noch im Gefängnis ist, wisse er jeweils nicht.
Ich kriege jede Woche einen Einblick in eine andere Welt.
Für ihn sei es eine wichtige Arbeit: «Es macht mir Spass. Und gleichzeitig finde ich es extrem sinnvoll investierte Zeit.» Er könne den Menschen etwas Neues beibringen, das ihnen vielleicht später etwas nütze.
SRF 1, Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 17:30 Uhr; haee;kocm