Es sei im Ausgang passiert, erzählt Andrea*. Ein Mann habe sie bedrängt und vergewaltigt. Gemäss Polizeiakten spricht der Beschuldigte von Einvernehmlichkeit, Andrea widerspricht dem vehement. Sie hat den Vorfall bei der Polizei gemeldet. Heute sagt sie: «Manchmal wünschte ich, dass ich nie zur Polizei gegangen wäre.» Denn die Beamten seien mit ihr anders umgegangen als erwartet: «Es war knallhart. Ich verstehe schon, dass Polizisten hart sein müssen, aber ich denke, in solchen Fällen könnte man schon etwas Menschlichkeit zeigen».
Die Ermittler hätten ihr mit ihren Fragen das Gefühl gegeben, sich bei dem Vorfall falsch verhalten zu haben. «Man bekommt zu hören: Was hattest du an? Hast du zu viel getrunken?», erzählt sie. Andrea fing an, an sich selbst zu zweifeln: «Bin ich schuld?». Mehrfach muss sie im Detail schildern, was aus ihrer Sicht passiert ist. Eine Qual, sagt sie.
Für die Betroffenen sei die Konfrontation mit dem Erlebnis belastend und könne im schlimmsten Fall sogar zu einer Retraumatisierung führen, sagt Opferberaterin Agota Lavoyer von der Beratungsstelle Lantana in Bern. «Viele Betroffene kommen sehr erschöpft aus den Einvernahmen und brauchen lange, um sich davon zu erholen.» Während sie viele Einvernahmen erlebe, die gut verliefen, gäbe es aber auch solche, die Andreas Erlebnissen ähneln. Den Grund sieht Lavoyer unter anderem in sogenannten Opfermythen – also Falschinformationen oder falsche Vorstellungen von Sexualdelikten. Diese seien laut Lavoyer in der Gesellschaft weit verbreitet und machten auch vor den Strafverfolgungsbehörden nicht Halt.
In der Schweiz gibt es grosse Unterschiede zwischen den Kantonen, was die Ausbildung der Polizei im Umgang mit Sexualdelikten betrifft. Während manche Kantone spezielle Abteilungen eingerichtet haben, die sich mit sexualisierter Gewalt befassen, verweisen andere lediglich auf die Grundausbildung der Polizistinnen und Polizisten.
*Name geändert