Larissa Kammermann schaut im Supermarkt auf eine Packung Falafeln. Dort steht kleingedruckt, wovor sie sich fürchtet: «Mich irritiert, wenn ich sehe, wie viele Kalorien hier 100 Gramm haben. Dass die Angabe auf der Packung immer so präsent sein muss.» Sie kauft gerade fürs Abendessen ein und rechnet im Kopf mit, wie viele Kalorien sie gerade in den Einkaufskorb legt: «Das ist mir wie eingetrichtert.» Einfach das zu wählen, worauf sie Lust habe, das ginge nicht, sagt sie.
Larissa hat Anorexia Nervosa, im Volksmund Magersucht genannt. Während fast neun Jahren ging es Larissa gut. Sie arbeitet als Modeverkäuferin, trifft sich gern mit ihren Freund:innen, postet Fotos auf Instagram, liebt es im Ausgang fein essen zu gehen –führt ein ganz normales Leben einer jungen Frau. Doch dann kommt 2020 Corona. Larissa muss in Kurzarbeit. Die Pandemie zieht er den Boden unter den Füssen weg, kein gewohnter Alltag mehr, keine Struktur. Larissa wird rückfällig. «Ich hatte dann gar nicht so Angst von der Krankheit selbst, sondern mich mehr gefragt: Wann habe ich mein Leben wieder? Das war so diese Angst, die mich zurück in die Anorexie gebracht hat, um Halt zu haben», sagt sie. Über die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen hatte Larissa keine Kontrolle, über ihren Körper schon. Sie fing wieder an zu hungern und zählte Kalorien, um sich von ihren Ängsten abzulenken.
Die Zahl der Betroffenen hat zugenommen
So ergeht es während der Pandemie nicht nur Larissa: Die Zahl der Betroffenen mit Anorexie hat 2020 stark zugenommen, das bestätigen alle von SRF Forward kontaktierten Anlauf- und Beratungsstellen: «Es haben sich nicht nur die Anfragen erhöht, auch die Beratungen haben sich verändert», sagt Sarah Stidwill von der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES. Sie hätten mehr Anfragen von Menschen mit Verläufen, die sich innerhalb weniger Wochen verschlechterten. «Aber auch die Verzweiflung: Leute, die gemeint haben, sie hätten es geschafft und jetzt wieder voll in der Krankheit drin sind.»
Magersucht ist eine der schwersten psychischen Erkrankungen überhaupt. In der Schweiz erkranken 0.2 Prozent der Männer und 1.2 Prozent der Frauen in ihrem Leben einmal an Magersucht. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit, die vor Corona erschienen ist.
Larissa hat 2020 innerhalb von sechs Monaten fast zwölf Kilogramm Gewicht verloren. Erst als es ihr psychisch richtig schlecht ging und sich von Morgen bis Abend bei ihr alles nur noch ums Essen drehte, wurde ihr klar, dass sie wieder in die Krankheit abgerutscht war: «Ich hatte gemerkt, dass ich wirklich nicht mehr ich selbst war.»
Mehr als ein Schönheitsideal
Magersucht äussert sich zwar körperlich, spielt sich aber im Kopf ab. Denn hinter dem Wunsch, dünn zu sein, verbirgt sich mehr als ein unerreichbares Schönheitsideal. Viele Betroffene assoziieren mit einem dünnen Körper Positives wie Liebe, Erfolg und Respekt. «Dahinter steckt auch ein soziales Bedürfnis: Wenn ich besser aussehe, komme ich besser bei Leuten an und finde vielleicht einen Partner und mehr Freunde», sagt Barbara Widmer, Psychotherapeutin beim Kompetenzzentrum für Essstörungen und Adipositas in Zürich. Die Pandemie und die eingeschränkte Freiheit lösten bei vielen Betroffenen ein erhöhtes Kontrollbedürfnis aus.
Die Nachfrage nach Psychotherapien ist während der zweiten Pandemiewelle weiter gestiegen. Zwei Drittel der Psychotherapeut:innen hierzulande sagen, dass sie regelmässig aufgrund fehlender Kapazitäten Patient:innen abweisen müssen. Das hat eine Umfrage der psychologischen Berufsverbände in der Schweiz ergeben.
Nach der Reportage nahm sich Larissa Zeit und beantwortete Fragen aus der Community. Dabei spricht sie beispielsweise hilfreiche Instagram-Seiten an und nennt Aussagen und Fragen, die Betroffene nicht hören wollen.