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Welt ohne territoriale Grenzen «Offene Grenzen würden zu neuen Kriegen führen»

Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger und der Internationale SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck haben Ihre Fragen zu einer Welt ohne Grenzen beantwortet.

Die Linien auf dem Globus verschwinden, Pässe und Grenzkontrollen gibt es nicht mehr und Menschen können frei von einem Kontinent zum nächsten reisen: eine Welt ohne Grenzen. Doch wie würde eine grenzenlose Welt tatsächlich aussehen? Welche Auswirkungen hätte sie auf Politik, Wirtschaft und Kultur? Könnte sie zu mehr Frieden und Verständnis zwischen den Völkern führen oder neue Herausforderungen und Konflikte schaffen? Dazu haben Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger und der Internationale SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck Ihre Fragen beantwortet.

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Reiner Eichenberger
Wirtschaftswissenschaftler
Universität Fribourg

Sebastian Ramspeck
Internationaler Korrespondent
SRF

Chat-Protokoll:

Was müsste die Schweiz unternehmen um ohne ein weiteres Wachstum seinen Lebensstandard mehr oder weniger zu halten? Es heisst immer ohne Wachstum gebe es keinen Wohlstand. Aber so wie jetzt kann es doch nicht weiter gehen. Immer von allem mehr und vor alle auch von den negativen Sachen. Dichtestress überall.

Sebastian Ramspeck: Hätten es die Menschen nicht selbst in der Hand? Wer mit seinem Lohn, seiner Wohnung usw. zufrieden ist, wenig einkauft, wenig reist und wenig Kinder hat, der leistet seinen ganz persönlichen Beitrag zu einer Welt mit weniger Wachstum. Aber viele möchten eben genau nicht so leben.

Bei einer Abschaffung der Grenzen könnte der Zugang zu den wohnsitzbasierten Sozialsystemen (z.B. AHV, Krankenversicherung, Sozialhilfe) nicht mehr reguliert werden. Um die Leistungen zu finanzieren, müssten die Beiträge/Steuern laufend erhöht werden. Hätte dies nicht innert kurzer Zeit eine Abschaffung dieser Systeme zur Folge?

Sebastian Ramspeck: Der berühmte Ökonom Milton Friedman sagte einmal: Grenzenlose Migration ist wirtschaftlich gut – aber funktioniert nur ohne Sozialstaat. Über «Migration» kann man jedenfalls nur seriös sprechen, wenn man die genauen Regeln und Systeme kennt, davon hängen viele Vor- und Nachteile ab.

Es wäre wichtig, dass die Provinzen keine Länder sind (Provinz Deutschland, Frankreich, Schweiz) sonder neue Grenzübergreifende (Tirol, Voralberg und Graubünden gehören zusammen.

Sebastian Ramspeck: Es gibt zum Beispiel die Idee eines «Europas der Regionen». Aber man stelle sich vor, wie schwierig es wäre, nur schon die Karte Europas neu zu zeichnen! In der Schweiz gab's immer wieder Vorschläge für eine «logischere» Unterteilung nach Kantonen. Aber – chancenlos, weil immer irgendjemand dagegen ist.

Das Konzept der Grenze ist viel junger als Rasse, Ethnie oder Religion. Auch ohne Grenze denke ich nicht, dass die Menschen glücklicher zusammenleben können! Vor Allem wir werden immer durch die Politik instrumentalisiert. Finden Sie auch?

Sebastian Ramspeck: Nein, das finde ich nicht. In der Schweiz wählen ja wir selbst unsere Politikerinnen und Politiker. Wenn schon, «instrumentalisieren» wir uns also selbst...

Ist es nicht logischer, eine Welt zu haben, in der die Grenzen schrumpfen, als eine Welt ohne Grenzen? Es scheint, dass es dafür Kriege geben muss, aber ist es nicht auch ohne Krieg möglich? Bitte geben Sie uns etwas Hoffnung.

Reiner Eichenberger: Sie haben natürlich recht. Die wichtige Frage ist nicht: «Sollen wir Grenzen haben oder nicht?» Die wichtige Frage ist: «Wie sollen die Grenzen ausgestaltet sein, so dass sie zugleich die Eigentumsrechte der Bürger an den Früchten der Politik ihrer Gebietskörperschaft oder Landes sichern, und ihnen möglichst freies Handeln und Wandern erlauben?» Offensichtlich bestehen da Zielkonkurrenzen. Die richtige Lösung sind viele und «weiche» Grenzen. Das ist eine der grossen Leistungen des Föderalismus. Durch die mehrlagige und kleinräumige Staatsstruktur gibt es zugleich viele Grenzen, die aber eben nicht hart sind.

Das gleiche gilt übrigens auch für die anderen Bereiche, etwa Bildung. Da ist das Duale Bildungssystem der Schweiz besonders gut, eben weil es feingliedrig und vielfältig ist, und die Grenzen zwischen den verschiedenen Bildungsgängen weich und durchlässig sind. Entscheidend dabei ist aber immer: Es müssen klar definierte Grenzen sein, mit klaren Regeln für das Durchschreiten der Regeln.

Das wäre schön aber was machen dann diktatorische Staaten wie Russland China Nordkorea wenn die Leute davon laufen können

Sebastian Ramspeck: Das wäre meines Erachtens eine der spannendsten Fragen: Würde Diktaturen nicht über kurz oder lang ihre Bevölkerung verlieren? Sicher würden nicht alle wegziehen wollen, aber vielleicht viele Junge mit guter Ausbildung und mit Ambitionen. Offene Grenzen könnten – nebst vielen anderen, auch negativen Folgen – zu einer Demokratisierung führen.

Wie würden Kulturen aussehen? Stärker vermischt/homogener? Wie viel Identität entsteht durch Grenzen?

Sebastian Ramspeck: Haben sich die Kulturen nicht sowieso schon stark vermischt – und vermischen sich weiter? Nicht, weil es offenere Staatsgrenzen gibt (das Gegenteil ist zurzeit der Fall), sondern dank Telefon, Social media, Internet, TV usw. Wir reden viel über Politik – Technologie verändert die Welt aber ebenso stark.

Historisch betrachtet: War es für Menschen eigentlich immer klar, dass es Grenzen braucht? Oder wann entstand das grundsätzliche Prinzip von Landesgrenzen?

Reiner Eichenberger: Ja, Grenzen gab es immer, schon lange bevor es Länder im heutigen Sinn gab. So gehe ich davon aus, dass es als Höhlenbewohner nicht klug war, ohne Erlaubnis und Geschenke in die Höhlen einer anderen Sippe zu gehen.

Endlich greift mal jemand diesen vernünftigen und bitter notwendigen Ansatz auf, der eh kommen wird. Wie sehen Sie einen realistischen Weg dahin? Kann dies die Menschheit schaffen ohne dass sie vorher noch einige Kriege führt und dabei eventuell den Planeten zerstört? Und wie überwindet man auf diesem Weg die beiden Übel Nationalismus und Rassismus?

Sebastian Ramspeck: Es gab diese Idee immer wieder, auch von grossen Denkern wie Albert Einstein, aber sie hat sich nie durchgesetzt, blieb bis heute eine Utopie. Sicher gäbe es in einer Welt ohne Nationen definitionsgemäss keinen Nationalismus mehr. Aber kein Rassismus? Da wäre ich weniger optimistisch. Rassismus kann es ja auch innerhalb eines Staats, eines Dorfs geben, dafür «braucht» es keine Grenzen.

Würde es dadurch nicht bereits nach wenigen Monaten zu einem Kollaps der Welt kommen? (Migration)

Reiner Eichenberger: Nein. Aber es gäbe dramatische Auswirkungen. Die heutige Wirkung der Grenzen – Schutz des Anrechte der Bürger auf die Früchte des Erfolg ihres Staates – würde aufgehoben. Damit würden die Anreize, eine gute lokale und nationale Politik zu betreiben, ausgehebelt. Als erstes würden sich private Substitute entwicken. Eben so etwas wie gated communities. Dadurch würden die Ungleichheiten viel grösser als heute. Die demokratische nationale und lokale Politik hat eine enorm ausgleichende Wirkung. Das liegt daran, dass jeder Mensch eine Stimme hat, also gewissermassen die gleiche politische Kaufkraft. Wenn man dieses System einreisst durch Abschaffung der Grenzen, regiert das Geld und dessen viel ungleichere Verteilung.

Danke für den Chat. Ich glaube, dass in diesem Szenario noch die dagewesene Megastädte entstehen würden, und dass diese inoffiziell zu eigenen Ländern werden. Denken Sie das auch? Oder dass wir uns eher noch besser verteilen als jetzt?

Sebastian Ramspeck: Spannende Frage. Ich sehe zwei mögliche Trends: (noch) mehr Konzentration vieler Menschen an bestimmten (wirtschaftlich und klimatisch) attraktiven Orten, also im Megastädten. Aber möglich auch gegenteiliger Trend: weniger wirtschaftliche und politische Unterschiede auf der Welt und daher langfristig weniger Drang der Menschen, in Megastädte zu ziehen.

Waren nicht Flüsse, Ozeane und die Gebirge die natürlichen Grenzen? Aus meiner Sicht würde es ohne Grenzen ein Chaos geben. Welches Recht würde wo und ohne Grenzen gelten. Welche Regierung wäre für welches «Land* zuständig?

Sebastian Ramspeck: Zuerst waren die Menschen Jäger und Sammler, da gab's keine Grenzen, im Gegenteil, alle suchten sich ihr Essen, wo sie es gerade fanden. Dann wurden die Menschen sesshaft, wurden Bauern und Handwerker, man begann, Grenzen zu definieren – oft, wie sie richtig schreiben, zum Beispiel in Form eines Gebirges. Aber metergenau definierte und gut bewachte Grenzen sind ein relativ neues Phänomen, während Jahrtausenden gab's das nicht.

Ich sehe es als unrealistisch an ua. weil ja die Bildung und Bildungssysteme schon sehr individuell sein müssen wie heute. Oder nicht? Angenommen es gäbe nur noch eine Sprache, wäre es realistisch, dass wir ein global ausgerichtetes Bildungssystem haben?

Reiner Eichenberger: Wieder kommt es darauf an, was man unter Grenze versteht. Das Beispiel Bildung ist aber eine sehr gute Illustration für den Ersatz alter Grenzen durch neue. Bisher gab es gewisse Grenzen bei der Zulassung von Studierenden aus dem EU Raum in der Schweiz, zB durch spezielle Ansprüche an die Vornoten oder eine kleine Differenz bei den Studiengebühren. Wenn nun so wie von der EU verlangt die EU Studierenden völlig gleichberechtigten Zugang zu den Schweizer Bildungsinstitutionen haben sollen, droht deren Überlastung. Dagegen gibt es drei Reaktionsmöglichkeiten für die Schweiz:

1. Wir senken die Qualität unserer Bildungsinstitutionen. Dann nimmt der Zuwanderungsdruck von Studenten aus der EU ab. Das hat aber auch schlechte Konsequenzen für die Schweizer Studierenden.

2. Wir erhöhen die Studiengebühren für alle. Damit führen wir neue Grenzen ein, einfach eine Geld- statt eine Zulassungsgrenze, und die Grenze ist anders gezogen. Diese Lösung hat auch negative Konsequenzen für die Schweizer Studierenden.

3. Wir erhöhen die Studiengebühren für alle – und geben allen in der Schweiz aufgewachsenen Inländern bei Erreichung der Volljährigkeit ein Grundkapital von CHF 100'000, das sie unter gewissen Vorgaben verwenden können, zB die erhöhten Studiengebühren bezahlen. Das Modell führt wieder Grenzen ein (nur die Inländer bekommen es), aber es wäre mit den EU Regeln kompatibel, wäre also nach EU-Definition keine ungebührliche Grenze. Zugleich wäre es ein tolles Modell für die Zukunft und Lösung vieler anderer Probleme.

Denken Sie, dass es bei einer Welt ohne Landesgrenzen eine globale Regierung gäbe oder regionale Regierungen mit globaler Koordination? Oder etwas ganz Neues?

Sebastian Ramspeck: 1948 wurde die Weltbürgerbewegung gegründet – u.a. mit Albert Einstein -, sie wollte einen einzigen «Weltstaat» mit einer «Weltregierung». Und stellte eigene «Pässe» aus. Es gibt aber auch die Weltföderalisten, die 1991 sogar eine «Verfassung» verabschiedeten. Idee: Die Staaten als grosser Staatenbund, mehr Kompetenzen international. Beides war bisher international chancenlos.

Ganz grob gefragt wie würde sich dadrch der Arbeitsmarkt verändern? Wie viele Arbeitsplätze gibt es aktuell «nur» dank Landesgrenzen? (Zollbeamte, Migrationsbeauftrage etc.)

Reiner Eichenberger: Wenn Grenzen sehr teuer wären, müssten kleine Länder ärmer als grosse Länder sein. Dafür gibt es keinerlei Evidenz. Wenn schon gilt das Umgekehrte. Aber sie haben natürlich recht, dass es volkswirtschaftlich enorm teuer ist, wenn junge gesunde Männer zum Zoll gehen, nur um uns dann daran zu hindern, dass wir durch Einkaufstourismus einen Beitrag zur Versenkung der Preisinsel – der unverschämten Ausbeutung der Schweizer durch überhöhte Preise – leisten. Insofern haben Grenzen hohe Kosten, wenn sie als Handelsgrenzen ausgeformt sind. Der Witz mit der Personenfreizügigkeit heute ist, dass wir die sinnvolle Wirkung der Grenze aufgehoben haben, aber die abschottende Wirkung durch Erschwerung von Handel teils sogar ausgebaut haben.

Würde die Welt wohl eher friedlicher? Was wäre zu tun, um diesem Ziel näher zu kommen?

Reiner Eichenberger: Nein, die Welt würde nicht friedlicher. Es ist eine totale Illusion, dass es durch Handel und Austausch weniger Krieg gibt. Wenn das so wäre, gäbe es keine Bürgerkriege. Bürgerkriege sind aber die weitaus am weitesten verbreitete Form von Kriegen. Diese Kriege gibt es, weil die Grenzen nicht klar gezogen sind, bzw weil Uneinigkeit über den richtigen Verlauf der Grenzen herrscht, sei es zwischen Ländern oder innerhalb von Ländern. Entscheidend für die Friedlichkeit ist die Qualität der politischen Institutionen. Je besser die politischen Institutionen die Konflikte lösen, desto weniger Krieg gibt es. Und für gute Institutionen braucht es eben Grenzen.

Es ist klar, dass mehrere flanierende Massnahmen dazu erfolgen müssten. Hauptthema: 1. Ein globales Grundeinkommen, würde die Migration fast umgehend stoppen. Die Einführung würde sicher 5 Jahre betragen. Ich teile die Meinung, alle Szenarien und Äusserungen zu dem Thema Grenzen abschaffen ohne Berücksichtigung dieser begleitenden Massnahme nicht ernst zunehmen sind. Teilen Sie diese Einschätzung?

Sebastian Ramspeck: Der berühmte Ökonom Milton Friedman sagte einmal sinngemäss: Offene Grenzen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wären wirtschaftlich gut – aber nur, wenn es nicht gleichzeitig einen Wohlfarts-/Sozialstaat gäbe. Sie schlagen quasi das Gegenteil vor: offene Grenzen – mit viel Sozialstaat global für alle. Politisch sind beide Modelle wohl ähnlich unrealistisch.

Ist ja alles rein spekulativ darum hoffe ich auch auf Ihre Spekulationen: welche neuen Formen von Sicherheitsbedrohungen könnten entstehen? Kann mir vorstellen dass zumindest bei international gesuchten Verbrechern eine bessere Verfolgung möglich wäre. Frage natürlich auch, wie es umgekehrt mit Asyl aussehen würde (Julien Assange…)

Reiner Eichenberger: Eine internationale Polizei würde nicht funktionieren. Für alle solche Organisationen gilt das gleiche wie für private Firmen. Sie funktionieren nur, wenn es Wettbewerb zwischen verschiedenen ähnliche Organisationen gibt. Heute funktionieren manche internationalen Organisationen leidlich gut, weil sie erstens an den existierenden nationalen gemessen werden können, und weil die nationalen Regierungen noch Druck ausüben. Eine Weltpolizei unter einer Weltregierung ist aber ein Horror, den man sich kaum ausmalen kann.

Wird es nicht automatisch Grenzen geben? Wie es z. B bei uns Kantonsgrenzen / Gemeindegrenzen gibt? Wir haben die gleiche Währung, Regierung etc. aber kantonale Gesetze. 

Reiner Eichenberger: Kantons- und Gemeindegrenzen sind nicht Grenzen, im hier diskutierten Sinn. Es braucht ja keine Pässe um sie zu überqueren, und der Handel und die Wanderung über diese Grenzen ist frei. Die Kantons- und Gemeindegrenzen zeigen aber, dass es sehr wohl ein kleinräumiges, fein austariertes und (im internationalen Vergleich) hervorragend funktionierendes System geben kann, auch wenn es keine Grenzen gibt.

Aber wie auf andere Fragen schon geantwortet: Entscheidend ist, dass die Kantone und Gemeinden eine ähnliche politische Leistungsfähigkeit haben, so dass es keine asymmetrische Wanderung gibt. Wenn zB die Zürcher scharenweise in den hochattraktiven Kanton Aargau wandern würden, und die Aargauer davon ausgehen müssten, dass sie in den nächsten 40 Jahren kaum ins rückständige Zürich wandern wollen, würde wohl mancher die Aargauer die Grenzen für die Zürcher schliessen wollen. Oder anders gesagt: Innerhalb der Schweiz haben wir Personenfreizügigkeit und finden diese grossartig, weil die politischen Institutionen ähnlich leistungsfähig sind. Das gleiche gilt auch für alle anderen Länder. Länder, innerhalb denen es grosse Unterschiede gibt, haben Probleme mit grossen Wanderungsbewegungen und Überfüllung am einen Ort und Entleerung am anderen.

Grüezi miteinander, ich habe mich schon immer gefragt, wieso man auf etwas stolz sein kann (z.B. SchweizerIn zu sein), ohne dass man dazu etwas beigetragen hat?

Sebastian Ramspeck: Worauf man stolz sein kann und worauf nicht, das ist natürlich eine philosophische Frage. Kann jemand stolz auf seinen beruflichen Erflog sein? Oder hat dieser jemand den Erfolg nur seinen Genen, seiner Ausbildung und seinem Glück zu verdanken...?

Schon lange diskutiere ich dieses Thema immer mal wieder mit Anderen. Bis jetzt halten es alle, ausser mir, für eine Spinnerei. Nun meine Frage. Wird es wie von mir erhofft eine Umverteilung/Ausgleich des Kapitals geben können und eine bessere Chancengleichheit für Alle geben?

Sebastian Ramspeck: Natürlich wäre die Chancengleichheit grösser, weil jede/jeder irgendwo auf der Welt ihr/sein Glück versuchen könnte- beruflich und privat! Es gäbe mehr Wettbewerb, auch zwischen Staaten. Ob es «Ausgleich» gäbe, ist eine schwierigere Frage – vermutlich bis zu einem gewissen Grad.

Die Nahrungsmittel, könnten diese auf der ganzen Welt ohne Grenzen gerechter verteilt werden, sodass nirgendwo Hungersnot bestehen würde?

Reiner Eichenberger: Nein. Für die gerechte Verteilung braucht es gute Politik. Und für gute Politik braucht es gute Anreize für die politischen Entscheidungsträger, sprich die Politiker und (wenigstens in der Schweiz) Bürger. Und für gute Anreize braucht es Grenzen. Grenzen definieren die Eigentumsrechte der politischen Entscheidungsträger am Ertrag ihrer Politik – sehr ähnlich wie die privaten Eigentumsrechte in der Wirtschaft. Eine Abschaffung der heutigen Grenzen brächte ein grandioses Wanderungsproblem, und würde die heutigen Anreize der politischen Entscheidungsträger auch in den erfolgreichen Ländern aushebeln. Bis sich ein vernünftiger Ersatz entwickeln würde – wohl private Strukturen – ginge es sehr lange, und es hätte unschöne Nebenwirkungen: Private Grenzen statt staatliche Grenzen.

Die Vorstellung einer Weltregierung ist komisch. Denn sie hätte ein riesiges Machtmonopol. Sie wäre niemals demokratisch, weil es sich für die Entscheidungsträger lohnen würde, die Demokratie auszuhebeln. Es wäre also eine Weltdiktatur, und wohl schlimmer als was wir von den heutigen Diktaturen her kennen. Die Eingrenzung dieser grässlichen Weltregierung ginge nur über: Grenzen. Sprich Wettbewerb zwischen verschiedenen Regierungen und Gebietskörperschaften. Und für das Funktionieren dieses Wettbewerbs braucht es Eigentumsrechte am Ertrag guter Politik, und die Eigentumsrechte bedingen: Grenzen.

Wie realistisch ist eine weltweite Bewegung hin zu «weicheren» Grenzen? Wohin geht der Trend – mehr Abschottung, oder mehr Freiheit?

Sebastian Ramspeck: Im Moment geht der Trend weltweit hin zu mehr Grenzen, mehr Grenzkontrollen, mehr Sicherheit und Abschottung, nicht nur, was Migration betrifft, sondern auch wirtschaftlich. Sicher ist aber auch: Auf Trends folgen meistens irgendwann Gegentrends, die Geschichte verläuft nicht gradlinig.

Die Welt ohne Grenzen kann ich mir gut vorstellen. Die Transition dahin ist schwieriger. Wie schaffen wir es, dass das an den Nationalstaat und das entsprechende geografische Gebiet gebundene abzubauen? Nationalstolz, Verlustängste, Angst vor «den Anderen»? Müsste es ein Ziel sein, eine Vision einer für aller lebenswerten Welt zu schaffen, auf welche wir gemeinsam hinzuarbeiten?

Sebastian Ramspeck: Die meisten Menschen tragen zwei Bedürfnisse in sich: Sie wollen reisen, interessieren sich fürs Fremde, möchten Güter aus fernen Ländern konsumieren, Offenheit. Sie wollen aber auch Sicherheit, Geborgenheit – Grenzen! Und im Zweifel, scheint mir, gewichten die meisten Menschen die Sicherheit höher.

Kommen dann Klimabedingt so viele Menschen, in den nördlichen Teil der Erde, das durch den Kampf um Nahrung jeder gegen jeden kämpft ?

Reiner Eichenberger: Die internationale Wanderung ist nicht klimabedingt. Sie ist durch die riesigen Unterschiede in Wohlstand und Lebensqualität bedingt. Und diese Unterschiede sind eine Folge völlig unterschiedlich leistungsfähiger politischer Institutionen, oder kurz: Der schlechten Politik in den Auswanderungsländern. Es gibt klimabedingte Wanderung, aber das ist Binnenwanderung. Denn die Klimaprobleme sind lokale Probleme, denen man ausweichen kann, indem man in einen anderen Landesteil zieht.

Würde es wirklich grosse Migrationsströme geben oder würden alle eher dort bleiben, wo sie heute sind?

Sebastian Ramspeck: Kurzfristig gäbe es sicher viele Menschen aus armen Ländern oder auch aus Diktaturen, die z.B. nach Europa oder in die USA auswandern wollten. Langfristig könnten offene Grenzen aber auch dazu führen, dass Diktaturen verschwinden und es weniger Armut gäbe. Eine grosse Frage wäre natürlich: Wie lange ist «kurzfristig», wann beginnt «langfristig»?

Ich frage mich, ob es dann nicht einfach «private»/inoffizielle Grenzen gäbe, beispielsweise zwischen einzelnen Sprachregionen oder Religionen.

Reiner Eichenberger: Das ist ein zentraler Punkt: Wenn etwas eine Funktion hat, und es dann aufgehoben wird, gibt es Substitute, die die Funktion erfüllen. In der Regel machen sie das weniger gut, sonst hätte es die Substitute schon vorher gegeben. Manchmal können sich die richtig guten Substitute aber erst entwickeln, wenn der alte Plunder weg ist. Deshalb die Frage: Gäbe es dann nicht private Grenzen? Ja, die gäbe es. Tatsächlich gibt es sie ja schon heute. Innerhalb der Schweiz ist die Wanderung frei, und auch zwischen der EU und der Schweiz. Weshalb wandern nicht alle nach Zug? Da ist es doch schön, die Staatsleistungen besser als an den meisten Orten sonst, und die Steuern tiefer.

Die Antwort ist einfach: Die hohen Wohnkosten kompensieren die Standortvorteile. Für die Zuger Bodenbesitzer ist die Öffnung also gut. Für die bisherigen Mieter eher schlecht. Diese marktliche Bremse für die Zuwanderung funktioniert aber nur, solange in Zug die heute in der Schweiz gültigen Regeln durchgesetzt werden und sich auch die Zuwanderer an die Regeln halten. Das ist aber ein fragiles Gleichgewicht.

Wenn zB die Zuwanderer beginnen würden, wild zu siedeln und sich kleine Hütten bauen, ist die Frage, ob Zug dann das bekämpfen will und kann. Wenn es Ordnung schafft, wird es noch attraktiver für die Zuwanderung aus Kantonen, die mit dem Zuwanderungsdruck nicht mehr zuschlage kommen. So wäre es eine Zeit lang für Zug attraktiv, Ordnung zu halten, weil das zuerst Zuwanderung bringt, die noch mehr Steuergeld bringt.

Aber irgendwann kommt es auch aus Zuger Sicht zu Füllungskosten, sprich Überlastung von Infrastruktur, Spitälern, Schulen, etc. Damit hätte dann Zug keine Anreize mehr, für Ordnung zu sorgen, und dann käme die grosse Zuwanderung von Siedlern, die sich nicht an die Regeln halten, eben zB wild zu siedeln.

Aus vielen Ländern kennt man diese Problematik insbesondere bei der Zuwanderung in die Städte und der Entstehung von wilden Siedlungen und wenigstens teilweise rechtsfreien Räumen. Die Reaktion darauf wäre dann wohl, dass private Firmen entstehen, die wie heute in vielen Entwicklungsländern üblich «gated communities» aufbauen. Das sind neue Grenzen, aber eben nicht staatliche Grenzen.

Keine Grenzen und Zölle: Würde dadurch der Handel erleichtert/beschleunigt? Oder würde die Wirtschaft kollabieren? Ich kann mir beides nur schwer vorstellen. Danke für eine Einordnung/Spekulation.

Sebastian Ramspeck: Offene Grenzen hiesse ja nichts anderes, als dass die Staaten ähnlich miteinander geschäften könnten wie heute z.B. die Kantone innerhalb der Schweiz. Ohne Zölle, ohne Einschränkungen – ein grosser Wirtschaftsraum. Kurzfristig gäbe das vielleicht vielerorts Unmut, aber langfristig würde in einer klassisch wirtschaftsliberalen Perspektive der Wohlstand grösser werden – und zwar für alle.

Durch eine Welt ohne Nationen würde ja auch jedes nationale, internationale Recht ausgehebelt. Würden wir nur noch globales Recht haben? Welche Gesetze würden gelten und wie würden sie durchgesetzt werden?

Sebastian Ramspeck: Wenn wir uns die Welt als *ein* Staat mit einer Weltregierung denken, dann bräuchte es natürlich auch *einen* Gesetzgeber, zum Beispiel ein Weltparlament, das von allen 8 Milliarden Menschen gewählt würde. Solche Ideen gab es – aber eben nur Ideen, Visionen. Es würde sicher nicht einfacher werden, sich auf gemeinsame Regeln zu einigen.

Würde es nicht das grösste Chaos geben – und die Kriminellen die Macht an sich reissen?

Reiner Eichenberger: Ja. Diese Kriminellen würden dann aber nicht so benannt. Das heisst aber nicht, das Politiker kriminell sind. Das Problem ist das Monopol. Grenzenlosigkeit kann prima funktionieren, wenn im Hinterland kontrolliert werden kann. Das kennen wir vom Schweizer Zoll. Hinterlandkontrollen gibt es in vielerlei Form. Eine einfache Form sind Preisdiskriminierungen. So kann man die Grenze für EU-Studierende völlig offen halten, wenn sie dann einfach höhere Studiengebühren zahlen müssen. Die EU definiert das aber auch als ungebührliche Grenze, und verlangt genau so wie bei der Personenfreizügigkeit eben nicht nur freie Wanderung, sondern auch Gleichstellung in allen anderen Bereichen. Wenn diese Grenzenlosigkeit international voll durchgezogen wird, dann landet man bei einem Welt-Einheitsstaat. In solchen Machtmonopolen setzt sich das Böse durch.

Vielleicht zynisch, aber Menschen scheinen immer Konflikte zu suchen, nun in letzter Zeit scheinbar über Landesgrenzen/Ansprüche von Land. Meine Frage: Würde es dann einfach andere Konflikte geben? Oder sähen sie tatsächlich eine friedlichere Welt dadurch?

Sebastian Ramspeck: Eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Fragen! Offene Grenzen würden Grenzkriege teilweise «überflüssig» machen. Gleichzeitig würden offene Grenzen (für Menschen, Güter usw.) wohl zu neuen Konflikten und Kriegen führen. Wobei eine Welt mit offenen Grenzen ohnehin nur zustande käme, wenn alle Staaten Vertrauen ineinander haben, wenn die politischen und wirtschaftlichen Unterschiede viel, viel kleiner wären als heute.

Ich sehe das Szenario als sehr unrealistisch, was denken sie, würde am Tag 1 nach Aufhebung aller Grenzen passieren? Würde Markt sofort zusammenbrechen, Krieg ausbrechen, unstemmbare Migrationsflüsse?

Reiner Eichenberger: Ja, auf den ersten Blick ist das natürlich eine schräge Frage. Aber: Es gibt ja die Grenzenlosigkeit: Innerhalb der EU, zwischen der EU und der Schweiz. Aber auch innerhalb der Schweiz. Innerhalb der USA. Innerhalb jeden Landes – meint man. China zB hat es nicht. Da werden die Binnenwandernden massiv diskriminiert. Die zentrale Frage ist also: Wann ist Grenzenlosigkeit im hier gefragten Sinn (Wanderungsfreiheit für Menschen) gut und wann schlecht? Innerhalb der Schweiz finden wir sie alle gut. Weshalb? Weil die Wanderung mehr oder weniger symmetrisch ist. Es also kein starkes Bevölkerungswachstum und so Füllungseffekte in einzelnen Kantonen gibt. Der Grund für die Symmetrie ist: Alle Kantone haben ähnlich leistungsfähige politische Strukturen, und bieten so den Einwohnern ähnliche Entwicklungsaussichten. Grenzenlosigkeit funktioniert also nur in Räumen, mit relativ ähnlichen politischen Strukturen. Die Frage ist also: Ist Afrika und die EU genügend ähnlich für Öffnung? Ist die EU und die Schweiz genügend ähnlich für die Öffnung? Lustig: Die Einkommensunterschiede zwischen zB Tunesien und Polen sind weit kleiner als die Unterschiede zwischen Polen und der Schweiz.

10vor10, 08.08.2024, 21:50 Uhr ; 

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