Das Interview unten ist ein Auszug aus dem längeren Radiogespräch (siehe oben).
SRF News: In den letzten Jahren erschienen regelmässig historische Berichte zu der Vergangenheit von Kinderheimen. Wieso ist das Thema heute so aktuell?
Christine Luchsinger: Wellen der Empörung gab es bereits im 20. Jahrhundert. Doch viele Bemühungen versandeten. Erst seit einigen Jahren arbeiten die Institutionen ihre Geschichte auf, auch wegen des Drucks der Öffentlichkeit. Bei der Stiftung «Gott hilft» war der Druck so gross, dass sie sich zu ihrem 100-jährigen Jubiläum 2016 entschieden haben: Wir stellen uns unserer Geschichte und den Missbräuchen, die geschehen sind.
Ihr Buch «Niemandskinder» wurde vor einem Jahr publiziert. Wie hat die Stiftung darauf reagiert, macht sie etwas anders?
Das Buch löste erstaunlich viel Diskussionen aus. Die Erkenntnisse waren für manche Mitarbeiter erschütternd. Sie haben Leute, die sie noch kannten, plötzlich in einem negativen Licht gesehen. Mein Eindruck ist, dass sich viele Mitarbeitende mit der Geschichte auseinandergesetzt haben und auch realisierten, dass es immer blinde Flecken gibt – die schlimm sein können, die man aber erst später erkennt.
Wenn Sie nach vorne schauen, für was müssen wir uns in 50 Jahren entschuldigen?
Ich habe eine Vermutung, aber das ist Spekulation. Mich hat immer beelendet, wie rigid sich heute Erziehungspersonen zurücknehmen müssen in Bezug auf Zärtlichkeiten. Das ist ein grosses Tabu heute. Ein Gutnacht-Kuss ist ein No-Go, Umarmungen sind nur in Rücksprache mit den leiblichen Eltern möglich. Das alles ist durchaus verständlich, als Folge der Geschichte mit den massiven Übergriffen, weil man sie verhindern will. Aber es ist eigentlich schon sehr traurig.
Das Gespräch führte Stefanie Hablützel.
*Im Bild ist eine Ansicht der Ausstellung «Wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht - 100 Jahre Kinder- und Jugendhilfe» der Stiftung «Gott Hilft» in Zizers. Jugendliche haben Ihre Gedanken beim Heimeintritt festgehalten. Die Ausstellung ist noch bis Ende November geöffnet.