Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

10 Jahre SRFglobal Karin Keller-Sutter, ist die Welt verrückter geworden?

Mehr Krisen, mehr Extreme, mehr Tempo – ist das nur ein Gefühl? Zum 10-jährigen Jubiläum des SRF-Auslandmagazins SRFglobal werfen wir einen Blick auf globale Entwicklungen und Statistiken – und wir fragen Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter: Ist die Welt verrückter geworden?

Zuerst fragen wir aber Sie, liebe Leserin, lieber Leser:   

SRF News: Frau Bundespräsidentin, leben wir in einer verrückten Welt?

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter: Die Frage ist, wann war die Welt nicht verrückt, «ver-rückt» im Sinne von: Es ist nicht mehr alles an seinem Platz. Wir vergessen zuweilen, dass wir im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege hatten. Unsere Eltern und Grosseltern haben das erlebt. Wir hatten in den 90er-Jahren den Jugoslawienkrieg, eigentlich vor der Haustüre der Schweiz. Nach dem Fall der Mauer 1989 glaubten viele, es sei der ewige Frieden ausgebrochen. Aber wir sind nun halt zurück in der alten Machtpolitik.

Wie ist es, Bundespräsidentin in einer verrückten Welt zu sein?

Schon frühere Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten haben schwierige Zeiten erlebt. Ich denke beispielsweise an die Pandemie. Das war auch eine verrückte Welt. Es gab immer wieder Krisen oder ausserordentliche Ereignisse. Meine Aufgabe ist es, das Kollegium zu leiten, die Sitzung zu leiten, sodass wir zu Ergebnissen kommen. Wir vertrauen uns und wir unterstützen uns gegenseitig. Und das scheint mir gerade in einer schwierigen Zeit wichtig zu sein.

Die Machtpolitik der USA und Chinas stellt Unternehmen bisweilen vor die Wahl, mit der einen oder anderen Seite Geschäfte zu machen. Für welche Seite entscheiden wir uns als Schweiz?

Wir entscheiden uns nicht für eine Seite, wir entscheiden uns für vielfältige Beziehungen. Wir haben bilaterale Verträge mit der Europäischen Union. Wir wollen auch ein geregeltes Verhältnis mit den USA. Wir haben ein Freihandelsabkommen mit China, das jetzt erneuert werden soll. Es sind neue Freihandelsverträge ausgehandelt worden, mit Indien, mit dem Mercosur. Natürlich ist es so, dass die Beziehung mit Europa die wichtigste ist. Aber es ist wichtig, in die Breite zu gehen.

Die Europäische Union hat geopolitisch wenig Bedeutung und hat wirtschaftlich an Dynamik verloren. Welche Zukunft hat die EU in dieser Welt?

Die Europäische Union wurde schon oft totgesagt. Und Totgesagte leben bekanntlich länger. Immerhin ist sie ein Markt von 450 Millionen Menschen und der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Natürlich haben sich die Prioritäten verschoben. Sicherheit ist wichtiger geworden, und das Soziale ist auch wichtig – bei gleichzeitig hoher Verschuldung. Es gibt also eine Konkurrenz um die Mittel. Das ist in der Schweiz nicht anders. Es ist im Sinne des Ganzen zu hoffen, dass Europa stark ist.

Was ist für ein Land wie die Schweiz langfristig das grössere Risiko? Zu viel oder zu wenig Einwanderung? Ist es der sogenannte Dichtestress oder ist es Überalterung und Fachkräftemangel?

Ich würde das nicht schwarz-weiss sehen. Wir haben einen Fachkräftemangel aufgrund der Überalterung, aber hier können wir auch selbst ansetzen. Die Frage ist, wie lange man arbeitet? Wie attraktiv ist es, im Arbeitsprozess zu sein, wenn man viel mehr Steuern bezahlen muss? Auf der anderen Seite werden wir, wie viele überalterte westliche Staaten, Zuwanderung brauchen. Aber Zuwanderung muss eben auch verdaut werden. Wenn sie zu schnell erfolgt, wenn vielleicht auch Menschen kommen, die Integrationsschwierigkeiten zeigen, dann ist das ein Problem. Ich nehme immer wieder wahr, dass man in der Bevölkerung durchaus schätzt, wenn Menschen in die Schweiz kommen und hier etwas beitragen. Aber es gibt eben auch andere. Und die voneinander zu trennen, das ist nicht immer ganz einfach.

Global betrachtet verliert die Demokratie an Strahlkraft. Was muss getan werden, um die Attraktivität der Demokratie wiederherzustellen?

Wenn man die Zahlen anschaut, gibt es heute mehr Autokratien als früher. Aber die Demokratie hat nach wie vor eine hohe Strahlkraft. Warum wollen denn alle in die westlichen Länder kommen? Weil Demokratie einhergeht mit Wohlstand, mit wirtschaftlicher Prosperität, mit Freiheit.

Demokratie und Freiheit sind nicht gottgegeben. Man muss dafür arbeiten.
Autor: Karin Keller-Sutter Bundespräsidentin

Und die Menschen wollen in Freiheit leben. Das ist der natürliche Trieb der Menschen. Aber Demokratie und Freiheit sind nicht gottgegeben. Man muss dafür arbeiten. Wir sehen das in der Schweiz: Die direkte Demokratie ist manchmal auch anstrengend. Demokratie ist eben Arbeit, und manche vergessen das vielleicht.

War vielleicht auch die Pandemie ein Grund, warum in den Demokratien Gräben aufgegangen sind?

Ich denke, dass die Pandemie Spuren hinterlassen hat. Ich bin nicht sicher, ob man das Gleiche (die Massnahmen, Red.) noch einmal machen könnte, mit dem Wissen von heute. Ich glaube, viele haben das als grosse Bevormundung empfunden – natürlich aber auch mitgemacht, weil man das Gesundheitssystem und ältere Menschen schützen wollte. Aber ich denke, dass es in der Pandemie auch zu einem gewissen Vertrauensverlust gekommen ist. Und auf der anderen Seite zu einer Anspruchshaltung. Wenn etwas ist – der Staat springt schon ein, der Staat bezahlt.

Wenn Sie an die Welt, an die Weltpolitik in zehn Jahren denken: Tun Sie das vor allem mit Sorge oder mit Hoffnung?

Es kommt, wie es kommt, man muss einfach arbeiten. Man muss Grundwerte haben. Die Schweiz hat Grundwerte: die Rechtsstaatlichkeit, die direkte Demokratie, den Föderalismus. Wir respektieren das internationale Recht. Wir sind verlässlich, wir sind berechenbar. Wenn wir ein Engagement eingehen, weiss man bei uns, dass wir es erfüllen. Und hier müssen wir uns einfach treu bleiben. Wir müssen versuchen, auch in einer Welt, die arglistiger und unwägbarer geworden ist, zu unseren Werten zu stehen und sie durchzuziehen. Und ich glaube, mittel- bis langfristig hat das mehr Erfolg, auch wenn es vielleicht zuweilen schwierig ist.

Ist die Welt verrückter geworden? Das sagen die Zahlen

Karin Keller-Sutter erinnert im Interview daran, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu Krisen und sehr schwierigen Situationen gekommen ist. Ein Blick auf die Zahlen unterstützt diese Einschätzung. Ein paar Statistiken reichen nicht aus, um den Zustand der Welt zu erklären. Sie vermitteln aber einen kleinen, wenn auch oberflächlichen Eindruck davon, wie sich die Welt in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert hat.

Nach einer Phase mit vergleichsweise wenigen Kriegstoten in den Nullerjahren steigen die Zahlen in den 2010er-Jahren wieder deutlich – vor allem durch den Syrienkrieg. In den frühen 2020er-Jahren schnellen die Opferzahlen weiter in die Höhe: Der Krieg in der Ukraine und der blutige Tigray-Konflikt in Äthiopien mit bis zu 600'000 Toten prägen die Statistik. Seit Herbst 2023 fordern die Hamas-Attacke vom 7. Oktober und die israelische Offensive im Gazastreifen viele Todesopfer.

Dennoch: Die Opferzahlen im 20. Jahrhundert sind insgesamt deutlich höher – nicht nur wegen der Weltkriege, sondern auch wegen verlustreicher regionaler Konflikte in Asien und im Nahen Osten. Zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1980er-Jahre starben in manchen Jahren über 200'000 Menschen in bewaffneten Auseinandersetzungen.

Klare Trends sind schwer zu erkennen. Die jährlichen Schwankungen sind gross, und einzelne besonders tödliche Konflikte können die Statistik eines ganzen Jahrzehnts verzerren.

Naturkatastrophen haben weltweit zunehmend gravierende Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Zwar sorgen Extremereignisse wie das Erdbeben in Haiti (2010) oder Hurrikan «Katrina» (2005) für besonders hohe Schäden und viele Todesopfer, doch laut Rückversicherern sind es vor allem vermeintlich kleinere Katastrophen, die den langfristigen Anstieg der Schadenssummen antreiben: schwere Gewitter, Hagelstürme, Überschwemmungen oder Waldbrände.

Unsicherheit durch politische Umbrüche: 2004 lebte noch eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Weltbevölkerung in demokratischen Verhältnissen. Seither gewinnen sogenannte Wahlautokratien an Einfluss – Staaten, in denen zwar Wahlen stattfinden, diese aber nicht den demokratischen Grundprinzipien folgen. Eine massgebliche Veränderung brachte 2017 die Herabstufung Indiens – mit 1,4 Milliarden Einwohnern – von einer Demokratie zu einer Wahlautokratie. Gemäss dem renommierten Demokratie-Forschungsinstitut V-Dem könnte auch den USA eine Herabstufung drohen.

Auch das «Superwahljahr 2024» zeigt ein Bild wachsender Unzufriedenheit: In 73 Ländern war über die Hälfte der Weltbevölkerung zur Wahl aufgerufen. Dabei wurden amtierende Regierungen und Parteien der Mitte so oft wie nie zuvor abgestraft, während populistische Kräfte von links und rechts vielerorts zulegen konnten.

Die gute Nachricht zuerst: In den letzten Jahrzehnten konnten viele Menschen der extremen Armut entkommen. Die schlechte: Noch immer leben über 800 Millionen Menschen unterhalb der offiziellen Weltbank-Armutsgrenze von drei US-Dollar pro Tag – oft bedeutet das Hunger oder Unterernährung.

Zwar ist die Zahl der Todesfälle durch Protein- und Kalorienmangel deutlich gesunken, doch die Welt ist weit davon entfernt, den Hunger zu besiegen. Besonders viele unterernährte Menschen – gemessen an der Bevölkerung – leben in der afrikanischen Sub-Sahara und in Südasien.

Im Jahr 2024 belief sich die weltweite Marktkapitalisierung börsennotierter Unternehmen auf rund 114,5 Billionen US-Dollar. Vor zwanzig Jahren lag der Gesamtwert noch bei 36,5 Billionen – also etwa dreimal weniger.

Die Marktkapitalisierung beschreibt den Börsenwert eines Unternehmens und ergibt sich aus dem aktuellen Aktienkurs multipliziert mit der Gesamtzahl ausgegebener Aktien.

Mitte 2024 lebten weltweit rund 304 Millionen internationale Migranten und Migrantinnen – das entspricht 3,7 % der Weltbevölkerung. 2010 waren es noch 3.1 %. Knapp die Hälfte davon sind Frauen. Die meisten Migranten hielten sich 2024 in Europa und Nordamerika auf, die stärkste Zuwachsrate verzeichnete Asien.

Der häufigste Grund für Migration ist Arbeit: Die Mehrheit der Migranten sind sogenannte Wanderarbeitnehmer. Doch auch Konflikte, Gewalt, Naturkatastrophen und Menschenrechtsverletzungen zwingen Menschen zur Flucht. Sie machen zwar nur einen kleineren Teil der Migranten aus, ihre Zahl ist jedoch stark gestiegen. Ende 2024 waren weltweit rund 124 Millionen Menschen auf der Flucht – die meisten aus Syrien, Venezuela und Afghanistan. Die Länder mit den meisten anerkannten Flüchtlingen waren Ende 2023 der Iran und die Türkei. Die meisten Binnenvertriebenen lebten 2024 im Sudan, in Syrien und Kolumbien.

In nur zwanzig Jahren ist die Zahl der Internetnutzer von rund 800 Millionen auf 5,5 Milliarden gestiegen – das entspricht 68 % der Weltbevölkerung. Dennoch bleibt der Zugang in bestimmten Regionen eingeschränkt: Im Februar 2025 hatten in Südasien rund 1 Milliarde Menschen keinen Internetzugang, in Ostafrika 370 Millionen und in Ostasien 356 Millionen.

Soziale Netzwerke zählen weltweit zu den beliebtesten Online-Aktivitäten. Gemessen an der aktiven Nutzung bleibt Facebook das führende Netzwerk – Ende 2024 mit 3,65 Milliarden aktiven Nutzerinnen und Nutzern. Zu den häufigsten Gründen für die Internetnutzung gehören der Kontakt zu Familie und Freunden, das Teilen von Meinungen, Unterhaltung und Online-Shopping.

Diskutieren Sie mit:

Impressum

Box aufklappen Box zuklappen
Bildmontage: Karin Keller-Sutter vor einer Videowand

Roland Specker, Christina Brun (Redaktion), Fabian Schwander (Frontendentwicklung), Marina Kunz (Design).

Artikel wird geladen...

SRFglobal, 11.09.2025, 20:10 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel