Im Zentrum der Geschichte steht Reto, geboren irgendwo in der Schweiz. Schon bei seiner Geburt zerrt der Vater die Mutter vom Frischgeborenen weg. Man weiss nicht, ob Reto ein uneheliches Kind ist, eine Familienschande also. Fortan behandelt der Vater den jungen Reto wie ein Stück Dreck. Die Mutter behauptet zwar immer, ihren Sohn zu lieben. Doch wenn es darauf ankommt, ist sie weg - an der Arbeit, mit ihrer Alkoholsucht oder neuen Männern beschäftigt.
In der Schule ist Reto der «Bettseicher» - wegen des Stresses zu Hause weint seine Blase nachts. Der Vater überhäuft Reto mit Vorwürfen und verdingt ihn schliesslich an einen Bauern. Der behandelt Reto nicht besser, lässt ihn nachts nur auf dem Heu schlafen - da ist es wenigstens nicht so schlimm, wenn Reto seinen Urin nicht halten kann.
Suche nach Anerkennung
In seiner Freizeit zieht Reto umher, trifft sich mit andern Verdingkindern. Das Wort «Fremdenlegion» klingt für viele verheissungsvoll. Dort wirst Du ein neuer Mensch, heisst es.
Reto klaut einen Töff und fährt nach Frankreich, à l'étranger, in die Fremde, in die Fremdenlegion. 40 000 Schweizer haben sich ihr in den vergangenen 150 Jahren angedient. Die Schweizer und Deutschen Freiwilligen waren das grösste Ausländerheer in der Fremdenlegion.
Doch Reto merkt, das mit dem «ein neuer Mensch werden», funktioniert auch hier nicht. Fremdenlegionäre erhalten zwar alle neue französische Vornamen. Reto heisst nun Louis. Und wenn er die Zeit bei der Legion überlebt, wird er eine neue Identität erhalten. Aber die Vergangenheit holt ihn und seine drei Mitkumpels, alle um die 17 Jahre alt wie er, immer wieder ein.
Verrat durch die Fremdenlegion
Sie erzählen sich immer wieder ihre Lebensgeschichten, schon alleine deshalb entkommen sie ihrer Vergangenheit nicht. Und von ihren Vorgesetzten - unterdessen dienen sie im Algerienkrieg - werden sie schlecht behandelt, wie schon zu Hause. Immer tiefer schlittern sie in den Krieg, rotten ein Dorf aus, foltern einen algerischen Freiheitskämpfer. Doch dann bricht auch die Fremdenlegion zusammen. General de Gaulle befiehlt den Rückzug aus Algerien - alles war für die Katz'. So weit die Geschichte.
Hervorragender Start
Schweizer Verdingkinder, die in der Fremdenlegion dienten - das sind Themen, die in der Vergangenheit immer wieder aufploppten. Regisseur Franz Xaver Mayer gelingt es, diesen abstrakten Begriffen Gesichter zu verleihen: Reto, der immer und immer wieder versucht, die Liebe und Anerkennung seiner Mutter zu gewinnen und doch immer wieder scheitert. Retos Schmerz und seine Verzweiflung kriechen ins Publikum und lösen Beklemmung aus. Diese Passage mit dem ringenden Reto gehört zum Stärksten in diesem Stück - über weite Strecken bestritten durch den hervorragenden Schauspieler Jonas Götzinger.
Anspruchsvolle Algeriengeschichte
Wenn es um die Fremdenlegion und die Geschichte des Algerienkrieges geht, geht Regisseur Franz-Xaver Mayer freilich an die Grenze des Aufnehmbaren. Der Stoff wirkt dicht, die zahlreichen Akteure verwirren. Wenn man jedoch den Versuch aufgibt, das Geschehen auf der Bühne historisch einordnen zu wollen und man sich nur dem Schauspiel widmet, dann holen einen einzelne, starke Passagen immer wieder aus der Überforderung heraus. Etwa die flüsternd vorgetragenen und bohrenden Fragen des halb zu Tode gefolterten Algeriers, die Reto verwirren. Oder das orange Tuch, das die Bühne die längste Zeit über eingehüllt hatte und nun in einem Schlund verschwindet und allen den Boden unter den Füssen wegzieht.
«100 Jahre Weinen und 100 Jahre Bomben werfen» - am Schluss versteht man den Titel bestens, auch wenn es ein schönes Stück Arbeit ist.