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Verurteilung von Straftätern «Der Freiheitsentzug ist ab einem gewissen Punkt kontraproduktiv»

Straftäter werden in der Schweiz zu oft und zu lange weggesperrt – sei es in einem Gefängnis oder in einer psychiatrischen Einrichtung. Diese Meinung vertritt die langjährige Luzerner Kantonsrichterin und Strafrechtsprofessorin Marianne Heer. Am Montagabend leitet sie zu dem Thema eine Diskussionsrunde. Der Titel: «Die neue Lust am Strafen – Vorsorglich inhaftieren, für immer erwahren, guillotinieren.»

SRF News: Was steckt in Ihren Augen hinter dem Titel?

Marianne Heer: Das bedeutet, aus meiner Erfahrung, dass man heute das Gefühl hat, mit längeren und härteren Strafen könne man grosse Probleme der Straftäter lösen. Letztendlich wird im Strafrecht eine Möglichkeit gesucht, verschiedenste gesellschaftliche Probleme zu lösen – was schlicht nicht möglich ist. Der Hauptzweck einer Strafe ist, dass sich die Straftäter bessern, dass sie künftig keine Straftaten mehr begehen. Das können wir mit längeren Strafen keinesfalls erreichen. Ab einem gewissen Moment ist der Freiheitsentzug nur noch kontraproduktiv und führt dazu, dass wir schlechtere Leute entlassen als ursprünglich ins Gefängnis reingekommen sind.

Können Sie diese Tendenz mit einem Beispiel belegen – mit jemandem, der zu lange inhaftiert war oder zu lange eine Therapie über sich ergehen lassen musste?

Ich beobachte vor allem im Bereich der therapeutischen Massnahmen das Phänomen, dass Straftäterinnen und Straftäter deutlich länger als angemessen im Freiheitsentzug sind. Beispielsweise hatten wir bei uns am Gericht kürzlich einen Straftäter, der wegen Körperverletzungen verurteilt worden war. Der Mann war nicht allgemein gemeingefährlich und hätte eine Strafe von zwei bis drei Jahren absitzen müssen. Er wurde dann krankgeschrieben und war schliesslich zehn Jahre lang in einer therapeutischen Institution.

Woher kommt die Tendenz, dass Menschen zu lange ihrer Freiheit entzogen werden?

In der Gesellschaft herrscht heute ein extremes Sicherheitsdenken vor. Man fürchtet die Gefährlichkeit von Leuten. Wenn man jemanden zu einer therapeutischen Massnahme verurteilt, kann man solche Leute lange internieren. Denn anders als eine Freiheitsstrafe ist eine solche Massnahme nicht zeitlich beschränkt. Ich gebe hier aber zu bedenken, dass solche Leute in Kliniken den Staat teuer zu stehen kommen: Ein Behandlungstag in einer gesicherten Klinik kostet 1700 Franken. Es stellt sich die Frage, ob diese Kosten gerechtfertigt sind.

Welche Rolle spielt der öffentliche Druck bei besonderen Fällen? Neigt man als Richterin oder Richter beispielsweise dazu ein härteres Urteil zu sprechen, wenn die Diskussion in der Öffentlichkeit kritisch geführt wird?

Es gehört zu unserer Arbeit, dass wir als Richter objektiv entscheiden und uns nicht beeinflussen lassen. Doch wir sind Menschen und Teil der Gesellschaft. Also beeinflusst ein starkes Sicherheitsdenken der Gesellschaft auch unsere Urteile.

Dieser Psychiatrisierung des Rechts müssen wir Richter entgegenwirken.

Damit Sie als Richterin beispielsweise einen Aufenthalt in einer Psychiatrie anordnen können, muss ein Gutachten dafür vorliegen. Sind also Psychiaterinnen und Psychiater mitschuldig, dass Straftäter unverhältnismässig lange sitzen?

Die Psychiatrie hat einen sehr grossen Einfluss auf die Justiz. Man spricht ja auch von Richtern im weissen Kittel, wenn man von Psychiatern spricht. Ihre Gutachten sind wichtige Entscheidungs-Grundlagen. Doch dieser Psychiatrisierung des Rechts müssen wir Richter entgegenwirken. Wir müssen diese Gutachten kritisch betrachten. Um sich aber in diese Fachfragen einmischen zu können, müssen sich Richterinnen und Richter gezielt weiterbilden.

Was müsste sich ändern, damit Straftäterinnen und Straftäter künftig nicht mehr unnötig lange weggesperrt oder zusätzlich zu einer Therapie verurteilt werden?

Wir müssen uns bewusster werden, dass Psychiatrie keine exakte Wissenschaft ist. Genau so wenig wie die Justiz. «Was ist krank?», das ist ein weiter Begriff. Bei der Beantwortung dieser Frage spielen auch Wertvorstellungen, Ideen und Prägungen des Gutachters eine Rolle. Wichtig ist hier: Wir brauchen fassbare, nachvollziehbare Kriterien, weshalb eine Diagnose gestellt wurde. Ähnlich ist es beim Thema Gefährlichkeit. Wenn es darum geht abzuschätzen, ob jemand zum Wiederholungstäter werden könnte. Die Instrumente, die für diese Einschätzung beigezogen werden, müssen viel genauer hinterfragt werden.

Das Gespräch führte Silvan Fischer.

Marianne Heer

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Nebst ihrer Tätigkeit als Luzerner Kantonsrichterin ist sie Professorin für Strafrecht. Die 62-Jährige doziert an den Universitäten in Bern und Freiburg.

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