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Französische Wahlplakate an einer Strasse, ein Mann geht vorbei.
Legende: Die Romandie wählt ähnlich, wie die Deutschschweizer Städte, sagt Politologe Seitz. Keystone

Wahlkampf Der Röstigraben ist bald Geschichte

Schon heute, drei Wochen vor den Wahlen, glauben wir zu wissen, dass die Westschweiz anders wählen wird als die Deutschschweiz oder das Tessin. Doch Achtung: Der Röstigraben ist am Verschwinden. Dafür vergrössert sich der Graben zwischen Stadt und Land.

Der Röstigraben: Auf der Abstimmungskarte leuchten die Deutschschweizer Kantone rot, die Romandie grün auf. Die Eidgenossenschaft scheint getrennt, unüberbrückbar. Doch wenn man eine Ebene tiefer geht und die Gemeinden genauer anschaut, ergibt sich ein etwas anderes Bild, wie der Politologe Werner Seitz erklärt.

Romandie stimmt städtischer als die Deutschschweiz

«Es gab ja nie den einen Röstigraben», betont er. Selbst bei der EWR-Abstimmung nicht: Damals hätten die grossen Deutschschweizer Städte gleich gestimmt wie die Romandie. Und auch die SVP-Einwanderungsinitiative lehnten Städte wie Zürich, Bern, Basel, Luzern, St. Gallen und Chur genauso ab wie die Westschweiz.

Stimmen die Deutschschweizer Städte also wie die Romandie? «Umgekehrt!», sagt der Politologe. Vor allem in der Aussen- und Sozialpolitik stimme die Romandie einheitlicher – und dieses Stimmverhalten ähnele jenem der Deutschschweizer Städte. Die Westschweiz stimmt also städtischer als die Deutschschweiz.

Graben zwischen Stadt und Land

Das hat vor allem zwei Gründe: Einerseits weil verhältnismässig mehr Romands in den Städten leben als Deutschschweizer, andererseits weil die ländliche Westschweiz weniger konservativ wählt als in der Deutschschweiz. So gebe es in der Deutschschweiz einen ausgeprägten Graben im Stimmverhalten von Stadt und Land. «In der Romandie ist dies weniger ausgeprägt», so Seitz.

Das war nicht immer so. Ende des 19. Jahrhunderts war die Romandie weniger industrialisiert als die Deutschschweiz. Damals seien die Romands vor allem föderalistisch eingestellt gewesen. «Insofern lehnten sie sehr vieles, das aus Bern kam, ab», sagt der Politologe.

Die Romands jener Zeit könnten durchaus als Nein-Sager bezeichnet werden. Gerade sozialpolitische Themen, wie geregelte Arbeitszeiten, Krankenversicherungen oder dergleichen hätten die Stimmberechtigten in der eher landwirtschaftlich geprägten Romandie nicht interessiert.

Deutschschweiz vom Antikommunismus geprägt

Der Wandel zur städtisch, links wählenden Romandie kam nach dem zweiten Weltkrieg. Nicht weil die Romands einen Gesinnungswandel durchmachten, sondern – so Seitz – weil der Anti-Kommunismus in der Deutschschweiz vergleichsweise ausgeprägt war. Dies im Gegensatz zur Romandie: Hier hätten die Kommunisten recht gut überlebt, auch sei die Abgrenzung zwischen Kommunisten und Sozialisten nie stark gewesen. So seien beide Lager immer wieder Listenverbindungen eingegangen, was in der Deutschschweiz unvorstellbar gewesen wäre.

Auch heute noch sind die Kommunisten in Westschweizer Gemeindeexekutiven vertreten, so etwa in Morges, Lausanne, Genf und dem Neuenburger Jura. Doch die stärksten Parteien in der Westschweiz sind SP und FDP. Dies sei ein typisch städtisches Wahlschema, sagt Pascal Sciarini von der Universität Genf. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten zehn Jahren habe auch die Verstädterung in der Westschweiz zugenommen.

Schweizweiter Wahlkampf

Entsprechend stimmt die Romandie auf die Wahlen bezogen zunehmend so wie die Deutschschweizer Städte. Schiarini spricht von einer Vereinheitlichung der Stimmen bei Wahlen. «Mittlerweile sind die grossen Parteien überall vertreten, auch in der Romandie.» Die Parteien führten einen nationalen Wahlkampf, deshalb seien die regionalen Unterschiede bei den Wahlen nicht sonderlich ausgeprägt.

Auch seien die politischen Gräben keine festen Einheiten, sondern variabel, ergänzt Politologe Seitz. «Sie ändern sich: Sie flachen ab oder werden grösser», beschreibt er den Prozess. Das sei auch gut so, denn das mache die Schweiz interessant.

Die Westschweiz verstädtert und das verschiebt die tektonischen Spannungen in der Gesellschaft. Während sich der Stadt-Land-Graben dadurch eher vergrössert, wird der Röstigraben etwas aufgefüllt.

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