Zum Inhalt springen
Kurvendiagramm: Nach Abschaffung der Referenden steigt die Kurve an.
Legende: Die Zahl der Seiten neuer Gesetze vor Abschaffung der obligatorischen Gesetzes-Referenden – und die Steigerung danach. SRF

Wahlkampf Wenn Stimmbürger weniger mitreden, entstehen immer mehr Gesetze

Der Ökonomie-Professor Mark Schelker arbeitet sich durch über 100 Jahre Gesetzgebung in den Schweizer Kantonen. Er möchte wissen, weshalb (immer mehr) Gesetze entstehen. Klar ist: Wenn die Mitsprache beschränkt wird, nehmen die Regulierungen zu. Und die Unterschiede zwischen den Kantonen sind gross.

In der amtlichen Sammlung des Bundesrechts wird es ersichtlich: Gegen 7000 Seiten an neuen Gesetzen, Verordnungen und Bundesbeschlüssen kommen jedes Jahr hinzu. 1990 waren es erst 2000 Seiten, wie Avenir Suisse erhoben hat.

Mehr Staat oder weniger – fast schon ein Dauerbrenner vor den nationalen Wahlen. Erstmals kann «10vor10» Zahlen präsentieren, die belegen, dass auch in den Kantonen die Regulierungsdichte ständig zunimmt. Dies geht aus einer nicht veröffentlichten Studie der Universität Freiburg und Luzern hervor.

SRF: Sie haben sich in 100 Jahre Schweizer Gesetzgebung hineingewühlt. Was sind ihre Erkenntnisse daraus?

Mark Schelker

Box aufklappen Box zuklappen
Porträt Mark Schelker.

Der Ökonomie-Professor an der Universität Freiburg untersucht seit vier Jahren zusammen mit Simon Lüchinger (Universität Luzern) Daten zu Gesetzgebung, Verordnungen und Dekreten in allen Kantonen. Gesammelt wurden über 200‘000 Änderungen, Abschaffungen und Neuschöpfungen von Regulierungstexten seit 1908. Die Studie wird erst 2016 abgeschlossen.

Mark Schelker: Weltweit verstehen wir nicht systematisch, weshalb es teilweise sehr viele oder schlechte Gesetze und Regulierungen gibt. Wir wollen verstehen – und zwar mit System – wie Regulierungen überhaupt entstehen. Die Schweiz ist dafür ein wunderbares Labor: 26 Kantone, 26 verschiedene Systeme – was kommt da raus, wenn Gesetze gemacht werden? Wir untersuchen das bis zurück ins Jahr 1908 und sind mit über 200‘000 veränderten oder neuen Gesetzestexten konfrontiert.

Gibt es denn kantonale Unterschiede?

Ganz grosse sogar. Auch heute noch sind einige Kantone sehr zurückhaltend bei der Schöpfung oder Veränderung von Regulierung, andere sind sehr viel aktiver. Und in den letzten 30 Jahren gab es einen enormen Zuwachs der Aktivität der Parlamente.

Weshalb gibt es diese Unterschiede in den Kantonen?

Da können wir jetzt erst spekulieren: Grössere Kantone sind aktiver als kleinere, die Innerschweizer und generell die Deutschschweizer Kantone sind zurückhaltender als die Kantone der Romandie oder das Tessin.

Die Welschen machen mehr Gesetze?

Sie sind aktiver beim Abändern und beim Ausarbeiten von neuen Gesetzen. Und manche schaffen sie auch ganz ab.

Ist es gut oder schlecht, dass die kantonalen Parlamente immer aktiver werden bei neuen Gesetzen oder beim Umschreiben?

Das wird eine politische Bewertung sein müssen. Klar sind die Auswirkungen auf monetärer Ebene, also im Portemonnaie von Firmen oder auch Privathaushalten: An neue Vorschriften oder Regulierungen muss man sich anpassen, in den meisten Fällen ist das mindestens vorübergehend mit Mehrkosten verbunden.

Eine spannende Erkenntnis machten Sie mit dem Gesetzes-Referendum.

Ja, viele Kantone haben in den letzten Jahren das obligatorische Gesetzes-Referendum abgeschafft. Die Stimmbürger haben also viel weniger als noch früher das letzte Wort, wenn es um Gesetzesänderungen geht. Die Konsequenz daraus – und das sehen wir bereits deutlich in den Rohdaten – überrascht: Vor der Abschaffung dieser obligatorischen Referenden produzierten die kantonalen Parlamente durchschnittlich 40 bis 50 Seiten Gesetzestexte pro Jahr. Nach der Abschaffung waren es plötzlich 60 bis 70 Seiten pro Jahr.

Wenn Gesetze also nicht mehr eine Volksabstimmung bestehen müssen, dann ändern oder machen die Politiker mehr Gesetze?

Ja, es scheint darauf hinauszulaufen.

Am Schluss landen Ihre Daten und Erkenntnisse in einem grossen Buch in einer Bibliothek. Das war’s dann?

Nein, das wäre schade. Wir wollen zeigen, welche Systeme und welche Umstände zu guter Regulierung führen – und welche nicht. Wir sind ziemlich sicher, dass sich das bereits bei den Unterschieden der Schweizer Kantone zeigen lässt. Schlussendlich können unsere Erkenntnisse dazu führen, dass Kantone ihre Gesetzgebungsprozesse überarbeiten und verbessern.

Das Gespräch führte Michael Perricone

Meistgelesene Artikel