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Blick auf das neue Jahr Diese Fragen beschäftigen die Schweizer Wirtschaft 2020

Gelingt der Schweiz die Klimaneutralität? Platzt die Blase bei Aktien und Immobilien? Kommt das Rahmenabkommen zustande?

Drei komplexe Fragen werden die Debatte in der Schweizer Wirtschaft im laufenden Jahr prägen. Das Wirtschaftsmagazin «ECO» hat mit drei ausgewiesenen Spezialisten diskutiert, welche Antworten zu erwarten sind: Unternehmer und Energie-Experte Anton Gunzinger, Finanzmarkt-Spezialist Janwillem Acket von der Bank Julius Bär sowie SRF-Brüssel-Korrespondent Sebastian Ramspeck.

1. Gelingt es der Schweiz, klimaneutral zu werden?

Die Schweiz im Jahr 2050 – klimaneutral, netto null Emissionen. Die Schweizer Regierung möchte das. Doch die Realität sieht anders aus: Das Etappenziel für 2020 wird die Schweiz verfehlen. Die Reduktion des CO2-Ausstosses gegenüber 1990 um 20 Prozent wird das Land nicht erreichen und damit das Klimaziel von Kyoto nicht einlösen.

Grösster Sünder ist der Verkehr: Lag der CO2-Ausstoss 1990 bei 14.9 Millionen Tonnen nahm er in den Folgejahren sogar zu. Die Liebe der SchweizerInnen für SUVs und starke Motoren ist ein Grund. Die stetige Zunahme an Fahrzeugen ein weiterer. Der Ausstoss liegt 2020 voraussichtlich bei 15 Mio Tonnen. Keine Reduktion, sondern eine Zunahme um 0.7 Prozent gegenüber 1990.

Umstieg auf Elektroautos

Ist hier der Umstieg aufs Elektro-Auto tatsächlich der Weisheit letzter Schluss? «Wenn man es so macht, wie es beispielsweise bei Tesla üblich ist, nämlich Batterien mit Solarstrom herzustellen und das Auto auch mit Solarstrom zu fahren, ist man um den Faktor 6 bis 8 besser in Sachen CO2-Bilanz mit dem Elektromotor», rechnet Energieexperte und ETH-Professor Anton Gunzinger vor.

Bei den Gebäuden sieht es auf den ersten Blick gut aus: Lag der Ausstoss 1990 bei 17.1 Mio. Tonnen CO2 liegt die Schätzung für 2020 bei 12.3 Mio. Tonnen und damit bei einem Rückgang von 28 Prozent. Solarstrom, verbesserte Isolationen und Wärmepumpen zeigen Wirkung. Doch es braucht eine tiefere Absenkung, damit die Schweiz im Schnitt aller Sektoren die Reduktion um 20 Prozent erreicht. «Ideal wäre eine Kombination aus Sonne und Wind. Der Wind bläst stärker im Winter und auch in der Nacht. Und Biomasse. Mit diesen drei Energien kann die Schweiz 100 Prozent erneuerbar werden», so Gunzinger weiter.

Auf Wind zu verzichten, wird teuer

Doch gelingt der Ausstieg aus dem Atomstrom tatsächlich ohne den Bau zusätzlicher Gaskraftwerke? «Wenn man auf allen Hausdächern in der Schweiz Solaranlagen installieren würde, dann könnten wir es auch mit Solar allein stemmen. Man hat dann allerdings eine wahnsinnige Überproduktion im Sommer. Und im Winter würde es gerade so genügen. Das ist sicher nicht die billigste Lösung. Aber wenn man auf den Wind verzichten will, muss man diesen Weg gehen», so Gunzinger weiter.

Der Energieexperte bevorzugt deshalb den gleichzeitigen Ausbau der Windkraft. Österreich macht es vor: «Österreich hat 3000 Megawatt installierte Windräder. Die Schweiz kommt auf 75 Megawatt, Faktor 40. Da ist der politische Widerstand in der Schweiz einfach unglaublich hoch.»

Die Industrie als drittgrösste Emittentin schafft die Reduktion von 13.1 Mio. Tonnen auf geschätzte 10.6 Mio. Tonnen. Das entspricht einem Minus von 19 Prozent. Damit erreicht die Industrie den angestrebten Zielwert.

«Schweiz schafft Klimaneutralität»

Insgesamt reduziert die Schweiz den CO2-Ausstoss um rund 15 Prozent. Auch wenn man CO2-Kompensationen im Ausland dazurechnet, reicht es nicht für die angestrebten 20 Prozent. Dennoch ist für Anton Gunzinger klar: «Die Schweiz wird es schaffen, bis 2050 klimaneutral zu sein. Heute ist der Solarstrom günstiger als Öl, Atomstrom, Kohle. Und der Preis halbiert sich etwa alle vier Jahre. Da ist eine Lernkurve drin wie bei der Halbleitertechnik. Das ist beim Volk noch nicht angekommen.»

Und die Sorge, dass wir zwischendurch auch mal ganz ohne Strom dasitzen könnten, wischt der Ingenieur vom Tisch: «Wir haben das durchgerechnet und festgestellt, dass das System in der Schweiz sehr robust ist. Dank der Speicherseen, die wir haben, sind wir in einer extrem privilegierten Lage. Es gibt nur vier Länder auf der Welt, die eigentlich vollständig erneuerbar werden könnten: Das sind Österreich, Schweden, Norwegen und die Schweiz.»

2. Platzt die Blase bei Aktien und Immobilien?

Sind die Zinsen tief, steigen die Börsenkurse. Das galt für das ganze Jahr 2019. Grosse geopolitische Themen wie der Handelsstreit zwischen den USA und China oder das Hin und Her um den Brexit beeindruckte Anleger kaum. Auch die Nachricht, dass die Weltwirtschaft weniger stark wächst, liess die Börsen gelassen reagieren.

Mitte des Jahres sprang der Schweizer Leitindex SMI erstmals über 10'000 Punkte. Jahresresultat 2019: plus 25.4 Prozent. Der SMI übertrumpfte den US-Markt, der um 22.3 Prozent zulegte ebenso wie den europäischen Aktienmarkt, der immerhin auf ein Jahresplus von 24.8 Prozent kam.

2019 war Ausnahmejahr

Und wie geht es 2020 weiter? Der Handelsstreit scheint gelöst. Der Brexit kommt – voraussichtlich Ende Januar. Und die Weltwirtschaft wächst nochmals etwas langsamer. «Niedrige Zinsen und weiterhin steigende Börsen, das werden wir auch in diesem Jahr sehen. Aber der Anstieg wird in diesem Jahr nicht so werden wie im vergangenen Jahr. Das war ein Ausnahmejahr», sagt Janwillem Acket, Chefökonom der Privatbank Julius Bär.

Von einem Crash will der Finanzmarkt-Profi allerdings nichts wissen. Aus zwei Gründen: Die Wirtschafts- und Unternehmensdaten seien dafür zu solide, eine Rezession nicht in Sicht. Und: «Wir haben einen Anlagenotstand. Es gibt fast keinen Umweg um Aktien. Deshalb sollte man Preiskorrekturen für Zukäufe in Aktien nutzen.»

Aktien steigen weiter – aus Mangel an Alternativen

Bis Jahresende prognostiziert Acket für den Schweizer Leitindex SMI erneut ein Plus: «Wir haben ein Wahljahr des Präsidenten in den USA, das sollte eigentlich börsenfreundlich sein, aber eben auch Turbulenzen vor uns. Dann sollte man Ende 2020 mit einem Plus von drei Prozent beim SMI im Vergleich zum Endstand 2019 zufrieden sein.»

Sind die Zinsen tief, steigen die Immobilienpreise. Das galt für das Jahr 2019. Allein in den vergangenen 12 Monaten stiegen die Preise für Stockwerkeigentum um 2.2 Prozent. Innerhalb von fünf Jahren zogen die Immobilienpreise in der Schweiz um 5.3 Prozent an.

Am stärksten zogen die Preise im Kanton Basel-Stadt an: plus sechs Prozent, gefolgt vom Kanton Genf mit fünf, und der Region Bern mit vier Prozent. Im Kanton Zürich stiegen die Preise für Stockwerkeigentum immerhin noch um 2.9 Prozent.

Immobilienpreise ziehen weiter an

Und 2020? Die tiefen Zinsen bleiben. Damit fliesst noch mehr Geld in Immobilien und die Preise steigen weiter. Platzt die Blase? Julius-Bär-Chefökonom Janwillem Acket verneint: «Die Zentren, die grossen Städte, die Agglomerationen bleiben weiterhin attraktiv für Wohnbauten, aber auch für Unternehmensbauten. Da sehe ich kein Platzen der Blase, weil eben diese Standorte attraktiv sind. Aber in den ländlichen Gegenden haben wir einen Überhang an Mietwohnungen. Wir haben dort klar eine Strukturschwäche, die nicht positiv ist für die Immobilien dort.»

Der Traum von den eigenen vier Wänden ist bereits 2019 für viele Schweizerinnen und Schweizer geplatzt angesichts der sehr hohen Preise. Wohneigentum ist zu teuer geworden. Und was sollen diejenigen machen, die es sich noch leisten könnten? «Wenn das Objekt bezahlbar ist und vernünftig gepreist ist, dann ist das bei diesen attraktiven Hypothekarzinsen durchaus wünschbar. Aber das kommt auf den Einzelfall an, in den Zentren sind solche Immobilien bereits teuer, da sollte man aufpassen», so Acket weiter.

3. Kommt das Rahmenabkommen zustande?

Für die Schweiz ist die EU wichtigster Handelspartner. 2018 haben Schweizer Unternehmen Waren und Dienstleistungen im Wert von 135 Milliarden Franken in EU-Länder exportiert. Das entspricht 45 Prozent aller Exporte. Im Gegenzug hat die Schweiz aus der EU Waren und Dienstleistungen für 171 Milliarden Franken importiert. Das sind fast 63 Prozent aller Importe.

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind durch zwanzig bilaterale Verträge geregelt. Wirtschaft und Rechtsprechung entwickeln sich. Deswegen fordert die EU seit 2008, die bilateralen Verträge «dynamisch» anzupassen.

Banken und Wirtschaftsdachverband fordern Abkommen

2014 beginnen die Verhandlungen mit der Schweiz. Seit Dezember 2018 liegt der Vertrag auf dem Tisch. Zehn Jahre hat es gedauert. Die Schweizer Wirtschaft macht Druck: «Wir brauchen dieses Rahmenabkommen, um auch unsere qualitativ hochstehenden Produkte in den europäischen Raum exportieren zu können. Die Erwartung ist natürlich da, dass dieses Rahmenabkommen möglichst rasch in den politischen Prozess eingespeist wird», fordert Jörg Gasser, Geschäftsführer der Schweizerischen Bankiervereinigung.

Und auch die Direktorin des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse wird deutlich: «Die Unternehmen wollen eine Weiterentwicklung des bilateralen Wegs, sie wollen neue Verträge sehen und sie wollen vor allem die bestehenden Verträge aufdatiert sehen.»

EU hofft: Schweiz legt Karten auf den Tisch

Und doch herrscht Stillstand. Für den langjährigen SRF-Brüssel-Korrespondenten Sebastian Ramspeck ist klar: «Aus Sicht der EU ist der Ball ganz tief im Feld der Schweiz. Drei Klärungspunkte gibt es noch beim Rahmenabkommen. Aber der Bundesrat hat seit vergangenem Sommer nicht klargemacht, wie er das lösen will. Und der Neujahrswunsch aus Brüssel wäre eigentlich, dass der Bundesrat die Karten auf den Tisch legt und sagt, was er jetzt wirklich zu tun gedenkt.»

Aus Schweizer Sicht sind drei wesentliche Streitpunkte ungelöst: Streitpunkt Lohnschutz: Die Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitskräfte aus dem EU-Raum den Lohnschutz in der Schweiz aufweichen. Streitpunkt Unionsbürgerrichtlinie: Sie erlaubt nebst der Personenfreizügigkeit für EU Bürger auch erleichterten Zugang zur Sozialhilfe, was bei der SVP auf Widerstand stösst. Streitpunkt staatliche Beihilfen: Die EU könnte in das Schweizer Subventionssystem eingreifen. Das stösst vor allem bei den Kantonen auf Widerstand.

Fazit: Die EU will nicht weiterverhandeln, die Schweiz nicht unterschreiben: Das Rahmenabkommen steckt fest. «Die EU sagt, Neuverhandlungen, also Änderungen des bestehenden Textes des Rahmenabkommens – nein. Aber Ergänzungen, Präzisierungen zum bestehenden Text – ja. Wobei diese formale Unterscheidung scheint mir gar nicht so wichtig zu sein. Am Ende ist die Frage, ob es bei diesen offenen Punkten noch einen grossen Schritt der EU auf die Schweiz zugehen könnte. Ich bin da eher skeptisch», so Ramspeck weiter.

Schweizer Position nicht vergleichbar mit Grossbritannien

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Trotz allem scheint man in der Schweiz auf ein Entgegenkommen der EU zu hoffen. Schliesslich ist das Grossbritannien mit der EU auch gelungen. Doch EU-Kenner Ramspeck warnt vor diesem Vergleich: «Bei Grossbritannien gab es die Angst vor einem No-Deal-Brexit. Es gab eine Frist, es gab einen letzten Moment, dann hat plötzlich die EU tatsächlich noch einen Schritt auf Boris Johnson zu gemacht. Dieser hat auch recht clever verhandelt. Bei der Schweiz ist es ja nicht so, dass man plötzlich nichts mehr hätte.»

Es gäbe die bestehenden Verträge und ein Ende ohne Rahmenabkommen sei kein grosser Knall, sagt Ramspeck. «Das wäre eher die Furcht vor einer langsamen Verschlechterung der bilateralen Beziehungen. Und deshalb gibt es nicht diese Verhandlungsdynamik mit der Möglichkeit, in letzter Minute noch einen Schritt auf den anderen zuzutun. Da ist die Schweiz in einer schwierigeren Position.»

Ramspecks Vermutung: Der Bundesrat könnte nochmals auf Zeit spielen und versuchen, das Rahmenabkommen ins Jahr 2021 zu verschieben.

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