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«Qualimed»-Modell von Assura Neue Versicherung versetzt Hausärzte in Aufruhr

Statt des Hausarztes entscheidet eine externe Firma, welche spezialisierten Ärzte für eine Behandlung in Frage kommen.

«Das ist doch komplett absurd.» So kommentiert Hausarzt Felix Huber das neue Grundversicherungsmodell «Qualimed» der Krankenkasse Assura. Es gilt ab Januar und sieht vor, dass die deutsche Firma «Betterdoc» künftig die Auswahl von Spezialisten übernimmt.

So funktioniert Qualimed

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Beim Versicherungsmodell «Qualimed» sucht der Hausarzt den Spezialisten nicht mehr selbst aus. Diese Aufgabe übernimmt neu die Firma «Betterdoc».

«Betterdoc» prüft die Krankengeschichte, führt ein Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten und sucht geeignete Spezialisten in ihrer Datenbank.

Mindestens drei Ärztinnen und Ärzte erhält der Patient zur Auswahl. Für eine oder einen davon muss er sich entscheiden.

Das Assura-Modell gilt zunächst für vier Fachbereiche: Kardiologie, Orthopädie, Gastroenterologie und Urologie.

Die Prämie für «Qualimed» ist bis zu 60 Franken pro Monat tiefer.

«Wir arbeiten seit vielen Jahren in einem grossen Kreis von Ärzten zusammen. Wir wissen, wie jeder arbeitet und ob er sein Gebiet beherrscht oder nicht», sagt Huber.

«Und jetzt kommt eine deutsche Firma und will das besser machen. Da kann ich nur sagen: Das ist so eine komische Idee, das wird nie funktionieren.»

Hausärzte warnen vor «Qualimed»

Felix Huber ist Präsident der Medix-Ärztepraxen, einer Kette von Gruppenpraxen, in denen Hausärzte und Spezialisten an einem Ort zusammenarbeiten. Er ist nicht allein mit seiner Kritik.

Mehrere von «ECO» befragte Hausärzte äussern sich ähnlich oder haben gar Zettel in ihrer Praxis ausgelegt, die vor dem neuen Versicherungsmodell warnen.

«Ich verstehe die Reaktion», sagt Stephan Kotyczka von Assura. Er hat das Modell entwickelt. Er könne aber versichern, dass der Hausarzt darin eine zentrale Rolle habe.

Das Angebot sei aus einem Kundenbedürfnis heraus entstanden: «Wir haben sehr viele Anfragen bekommen von Kunden nach Spezialisten, die wir empfehlen können.»

Diese Aufgabe wird nun «Betterdoc» übernehmen. Die Kölner Firma wurde vor acht Jahren von einer Ärztin, ihrem Mann und ihrem Schwager gegründet. In Deutschland können mittlerweile rund 20 Millionen Versicherte die Dienste nutzen.

Die Verantwortlichen von «Betterdoc» betonen, dass sie finanziell unabhängig seien von den Ärzten, die sie vorschlagen. Sie richteten sich allein nach den Bedürfnissen des Patienten und sammelten dafür systematisch Informationen.

«Welche Klinik hat welche Fallzahlen? Wie oft wird ein Eingriff durchgeführt? welche Mortalitätsraten gibt es?», zählt Geschäftsführer Nils von Dellingshausen auf.

«Dann müssen Sie aber noch viel tiefer einsteigen und schauen: Welcher Arzt ist wie qualifiziert, wie zertifiziert, was hat er für Leistungsschwerpunkte? Wo engagiert er sich in der medizinischen Fachgesellschaft? Wo publiziert er? Das ist ein sehr breites und tiefes Feld. Dafür braucht es eine Menge Personal, um das alles zu erheben.

Assura rechnet mit Einsparungen

Wenn Assura tiefere Prämien anbietet und gleichzeitig Geld an «Betterdoc» zahlt – als Fallpauschale, deren Höhe die Beteiligten nicht bekannt geben –, dann, weil sie damit rechnet, finanziell zu profitieren.

Stephan Kotyczka sagt, die Pilotphase mit «Betterdoc» habe eine Schätzung der Expertengruppe des Bundes bestätigt: dass 20 Prozent der Eingriffe vermieden werden könnten, ohne dass der Patient Schaden nehme.

Die Direktorin des Versicherungsverbandes Santésuisse begrüsst das Modell, denn es gebe ein grundsätzliches Problem. Verena Nold sagt, wir hätten zwar in der Schweiz ein sehr gutes Gesundheitswesen, aber der Patient «hat keine Informationen, um zu beurteilen, welcher der qualitativ beste Arzt ist – vor allem für sein spezielles Leiden.»

Felix Huber lässt durchblicken, wie er mit «Qualimed» umzugehen gedenkt: «Wir können als Arztpraxen natürlich Patienten ablehnen, die so ein Modell haben. Fast alle Praxen sind überfüllt mit Patienten und haben jetzt schon Aufnahme-Restriktionen.»

Das Versicherungsmodell gilt ab Januar. Es sieht nicht so aus, als würden sich bis dahin die Wogen glätten.

«Betterdoc»: «Wir würden gerne mit Hausärzten zusammenarbeiten.»

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Nils von Dellingshausen, der Geschäftsführer von «Betterdoc», war für ein Video-Interview im Homeoffice in Köln zu erreichen.

Im Gespräch erklärt er den Gründungsgedanken seiner Firma und bezieht Stellung zur Kritik, eine deutsche Firma würde über Schweizer Patienten entscheiden.

SRF: Zielt «Betterdoc» vor allem darauf ab, Geld im Gesundheitswesen einzusparen?

Das ist einfach eine Konsequenz aus dem, was wir tun, aber nicht der Gründungsgedanke. Dieser beruhte auf der Erfahrung meiner Frau als Ärztin, wo sie gesehen hat, dass das Matching – so nennen wir das – zwischen Ärzten, Kliniken und Patienten nicht immer optimal funktioniert.

Es hat aber einen grossen Effekt auf die Behandlungsqualität und am Ende auch auf das Behandlungsergebnis, dass der Patient zu einem Arzt kommt oder in eine Klinik, die darauf spezialisiert ist und besonders viel Erfahrung hat.

Wo werden die Daten der Schweizer Patienten gespeichert, und wer hat Zugriff auf diese Daten?

Wichtig ist, dass die Patienten immer einwilligen, wenn Sie uns die Daten geben. Das heisst, sie müssen einwilligen, dass sie die Daten zum Zweck der Ärzte- und Spitalrecherche zur Verfügung stellen.

Wir werden in Zukunft eine Schweizer Niederlassung mit Schweizer Personal haben, und dort werden auch die personenbezogenen Gesundheitsdaten durch die Mitarbeiter der Schweizer Niederlassung bearbeitet. Und diese Daten verbleiben bei «Betterdoc» und sind nicht einsehbar, etwa durch die Versicherung.

Theoretisch könnten Sie aus Ihren Daten aber ein Ranking erstellen, oder?

Wahrscheinlich. Aber es ist nicht das, was uns antreibt. Was uns antreibt, ist der einzelne Patient.

Rankings sind eher nützlich für Ärzte und Kliniken oder Spitäler, die dann sagen können, wie toll sie sind.

Patienten wird das nicht weiterhelfen, denn jeder Patient ist sehr individuell in seiner Erkrankungssituation und braucht auch eine individuelle Empfehlung.

Hausärzte sind der Meinung, dass sie wüssten, was der Patient brauche. Und nicht eine Firma, die denkt, sie könnte Patienten objektiv besser beraten. Was halten Sie dieser Kritik entgegen?

Der Hausarzt hat ganz klar die Lotsenfunktion im Gesundheitssystem. Das möchte ich betonen. Deswegen macht er ja auch die Zuweisung zum Spezialisten.

Jedoch kann ein einzelner Arzt die Arbeit, die wir mit 70 Mitarbeitern leisten, unmöglich leisten.

Deshalb sind wir eine sehr gute Ergänzung zum Hausarzt. Die Hausärzte haben sicherlich einen guten Überblick über die lokale Versorgung, dort, wo sie sind. Aber wenn man sich überlegt, dass es in der Schweiz viele 1000 Spezialisten gibt, wird einem unmittelbar klar, dass das nicht immer ideal funktionieren kann. Und da können wir eigentlich sehr gut ergänzen.

Wir haben grosses Interesse, mit den Hausärzten zusammenarbeiten. Wir glauben, dass eine Kombination aus Hausärzten und «Betterdoc» eigentlich eine unschlagbare Kombination ist für den Patienten.

Die Kritik lautet auch, dass eine deutsche Firma künftig über Schweizer Patienten entscheiden soll.

Grundsätzlich nehmen wir extrem ernst, dass es hier um die Schweiz geht. Deshalb bauen wir auch ein Schweizer Team auf, das sich dann um die Schweizer Patienten kümmern wird.

Die Datenanalyse konnten wir vorher auch schon sehr gut durchführen, egal ob das durch ein Team duchgeführt wird, das in Deutschland sitzt oder in der Schweiz.

ECO, 30.11.2020, 22.20 Uhr

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