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Blick durch eine Tür in eine Gefängniszelle.
Legende: Arbeitsscheue, Liederlichkeit oder ein unsteter Lebenswandel konnten Grund genug für eine so genannte administrative Versorgung sein, etwa in einem Gefängnis. Keystone

Zentralschweiz Dunkles Kapitel Schweizer Geschichte aufarbeiten

Bis in die 80er Jahre hat in der Schweiz die Praxis von so genannten «fürsorglichen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» existiert. Kinder und Jugendliche wurden verdingt, in Heime oder ins Gefängnis gesteckt. Der Bund will dieses Kapitel Geschichte aufarbeiten. Auftakt ist ein Gedenkanlass.

Es ist ein düsteres Kapitel der Schweizer Geschichte, mit dem sich der frühere Urner Ständerat Hansruedi Stalder beschäftigt. Als Delegierter des Bundes kümmert er sich um die Anliegen der Opfer von fürsorglichen Zwangsmassnahmen. Im vergangenen Dezember wurde Stadler eingesetzt. Während der vergangenen Monate führte er viele Gespräche mit Opfern. Es seien erschütternde Geschichten, die er zu hören bekomme, erzählt Stadler im Gespräch mit dem Regionaljournal Zentralschweiz. Die Opfer seien stigmatisiert worden. Das sei für sie besonders schlimm gewesen. «Ihr Ruf eilte ihnen bis ins Altersheim voraus», sagte Stadler.

In der Schweiz wurden noch bis in die 1980er Jahre fürsorgliche Zwangsmassnahmen verordnet. Kinder wurden ihren Eltern entzogen und bei Privaten oder in Heimen fremdplatziert. Jugendliche und junge Erwachsene konnten von Verwaltungsbehörden ohne Gerichtsurteil und ohne Rekursmöglichkeit auf unbestimmte Zeit  zur «Nacherziehung» oder «Arbeitserziehung» in geschlossene Institutionen, unter anderem auch in Strafanstalten, eingewiesen werden. Als Begründung für diese Massnahmen konnte ein zu häufiger Stellenwechsel, ein liederlicher Lebenswandel oder die Schwangerschaft einer ledigen Frau ausreichen.

Gedenkanlass in Bern

Der Bund will dieses düstere Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte nun aufarbeiten. Am Donnerstag laden das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) sowie mehrere Organisationen und Institutionen Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu einem Gedenkanlass nach Bern ein. Er soll zur Anerkennung der schwierigen Umstände beitragen, in denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene lebten, für die sogenannte fürsorgerische Zwangsmassnahmen angeordnet wurden.

Der Gedenkanlass sei ein erster Schritt zur Wiedergutmachung, sagt Hansruedi Stadler. Danach müssten weitere folgen. Es gehe um die politische, die gesellschaftliche und der historische Aufarbeitung dieser Geschehnisse und letztlich auch um die Frage einer finanziellen Entschädigung. Bereits Im Herbst 2010 entschuldigte sich der Bund bei Opfern von Zwangsmassnahmen. Ein Gesetzesvorschlag der Rechtskommission des Nationalrats zur Rehabilitierung von administrativ Versorgten hat in einer Vernehmlassung breite Zustimmung gefunden. Anspruch auf Schadenersatz, Genugtuung oder andere finanzielle Leistungen besteht laut dem Gesetzesentwurf ausdrücklich nicht. Geregelt werden soll aber das Recht auf Akteneinsicht. Hansruedi Stadler fordert deshalb Kantone und Gemeinden auf, Akten auch nach Ablauf der Aufbewahrungspflicht nicht zu vernichten. Diese Akten seien dringend nötig, um die Geschichte aufzuarbeiten.

Opfer von Zwangsmassnahmen nicht vergessen

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