Zehn Jahre lang galt beim Bundesgericht der Grundsatz: Schmerzen ohne klare Ursache sind überwindbar. Menschen mit solchen Symptomen, zum Beispiel als Folge eines Schleudertraumas, hatten keinen Anspruch auf eine Invalidenrente.
Die Türe wieder einen Spalt weit aufgestossen
Im Jahr 2015 hat das Bundesgericht diesen Grundsatz relativiert. Neu muss bei jedem Einzelfall nach einem Kriterien-Katalog geprüft werden, ob ein Anspruch auf Rente besteht oder nicht. Die Städte Zürich und Winterthur hofften danach, Menschen aus der Sozialhilfe in die Invalidenversicherung umteilen zu können und damit Geld zu sparen.
Der Winterthurer Sozialvorsteher Nicolas Galladé sprach damals von 150 möglichen Fällen, die von der Sozialhilfe in die IV wechseln könnten. Bei durchschnittlich 20'000 Franken pro Jahr geht es für Winterthur um einen Betrag von rund 3 Millionen Franken, die so in der Sozialhilfe gespart werden könnten.
Kein schneller Erfolg
Ein Jahr nach dem Bundesgerichtsurteil sagt Dieter Wirth, Leiter der Sozialen Dienste der Stadt Winterthur: Die Hoffnungen seien zwar noch da, der Weg sei aber lang. Es brauche langwierige Abklärungen.
Die Sozialen Dienste haben aus den möglichen Revisions-Fällen 20 ausgewählt, bei denen die grössten Chancen bestehen, dass die Betroffenen von der Sozialhilfe in die IV wechseln könnten. In diesen Fällen laufen nun aufwändige Abklärungen, um die Betroffenen bei der IV anzumelden. «Es kann lange dauern, bis jeder Einzelfall in letzter Instanz entschieden ist», stellt Dieter Wirth fest. Hat Winterthur mit diesen Fällen Erfolg, sollen weitere geprüft werden.
Hoffnungen auch in Zürich
Auch die Stadt Zürich ging nach dem Grundsatzurteil des Bundesgerichts von 2015 über die Bücher. Die Stadt will 50 Dossiers von langjährigen Sozialhilfebezügern neu der IV vorlegen. In 13 Fällen sei dies schon erfolgt, der Entscheid der IV stehe aber noch aus, erklärt Nadia Grunder, Sprecherin der Sozialen Dienste der Stadt Zürich, gegenüber dem «Regionaljournal».
Ein Einzelfall bestärkt in Zürich die Hoffnung: Bei einem neuen Klienten sei es gelungen, die angepasste Rechtssprechung geltend zu machen. «Das lässt darauf hoffen, dass sich das Urteil positiv auswirkt», erklärt Grunder. Zürich gibt pro Sozialhilfeempfänger im Durchschnitt 30'000 Franken pro Jahr aus. Bei 50 Betroffenen, die eine Rente statt Sozialhilfe bekommen könnten, geht es für die Stadt Zürich also um einen Betrag von rund 1,5 Millionen Franken pro Jahr.