Dutzende Personen sind jeden Tag im Gefängnis, ohne eine Straftat begangen zu haben – denn sie arbeiten dort. Im Gegensatz zu den Insassen können sie also jeden Abend nach Hause gehen. Doch wie ist der Alltag hinter Gittern? Wie ist es, mit Straftätern zusammenzuarbeiten? Vier Personen aus der Strafanstalt Saxerriet in St. Gallen erzählen es.
Iva Juricic, Pflegefachfrau
«Am Anfang wollte ich die Delikte der Insassen nicht kennen», erzählt Iva Juricic. Sie arbeitet seit zwei Jahren als Pflegefachfrau in der Strafanstalt. Sie wollte sich bei ihrer Arbeit nicht von der Vergangenheit ihrer Patienten beeinflussen lassen. Doch heute, zwei Jahre später, kann sie gut mit den Geschichten der Insassen umgehen: «Mittlerweile kann das Wissen über ein Delikt sogar helfen, damit ich verstehe, warum sich ein Insasse so verhält, wie er es tut.»
Juricic ist verantwortlich für die Gesundheit der Insassen. Sie kümmert sich um deren Verletzungen oder behandelt sie, wenn sie krank sind. Schon bevor sie in die Strafanstalt gewechselt hat, war sie in der Gesundheitsbranche tätig. Doch: «Man kann das Gefängnis mit keinem anderen Gesundheitssystem, wie in einem Krankenhaus oder Altersheim, vergleichen. Das hat eine ganz andere Struktur.»
Mir ist wichtig, dass ich immer ruhig bleibe, auch wenn ich mal beleidigt oder beschimpft werde.
Angst hat sie bei der Arbeit mit verurteilten Straftätern nicht, sagt sie. «Ich fühle mich sehr sicher. Ich habe immer ein Telefon bei mir mit einem Alarmknopf. Zudem habe ich ein sehr gutes Team um mich herum. Mir ist wichtig, dass ich immer ruhig bleibe, auch wenn ich mal beleidigt oder beschimpft werde.»
Eines ist ihr Job nicht: voraussehbar. «Ich weiss nie, wie kooperativ der Insasse ist oder etwa, ob er mich anlügt», sagt die 45-Jährige. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade darum – mag sie die täglichen Herausforderungen in ihrem Job.
Thomas Bigger, Werkmeister
Der Industriebetrieb der Strafanstalt Saxerriet bietet den Insassen die Möglichkeit, sich handwerklich zu betätigen. Einer der Werkmeister dort ist Thomas Bigger. «Wir führen diese Abteilung ganz normal wie einen Betrieb, mit Bestellungen, Lieferungen und Auftragsdokumentationen», erklärt Bigger.
Er arbeitet bereits seit zehn Jahren in der Strafanstalt und legt Wert darauf, die Abteilung mit viel Respekt zu führen, gegenseitigem Respekt, wie er betont. Wenn es irgendwo brodelt, muss er sofort handeln. «Ich muss eigentlich schon reagieren, bevor es dazu kommt», sagt er. Vorkommen würden solche brenzligen Situationen aber nur sehr selten.
Was meine Erfahrung gezeigt hat, ist, dass ganz arme Leute näher am Gefängnis sind als reiche.
Es gibt immer wieder Geschichten aus seinem Arbeitsalltag, die den 49-Jährigen nachdenklich stimmen. Solche über Delikte, die er nicht nachvollziehen kann, oder über Männer, die noch sehr jung sind und schon im Gefängnis landen. «Was meine Erfahrung gezeigt hat, ist, dass arme Leute näher am Gefängnis sind als reiche», sagt Bigger.
Er trifft hier auf die unterschiedlichsten Menschen: «Vom überzeugten Obdachlosen bis hin zum Top-Banker hat es alles in meiner Abteilung.» Das mache seinen Beruf spannend. Bigger möchte sie alle unterstützen und ihnen eine Perspektive geben: «Wir können den Leuten Wege aufzeigen, wie sie es beim nächsten Mal vielleicht besser machen können.»
Sarah Bösch, Sozialarbeiterin
Besonders intensiv mit den verschiedenen Delikten der Insassen auseinandersetzen muss sich die Sozialarbeiterin Sarah Bösch. Das ist nämlich eines der Vollzugsziele: «Wir schauen, dass der Insasse die Verantwortung für seine Tat übernehmen kann und was die Ursache dahinter war. Welche Entscheidungen hat er getroffen?» Auch das Rückfallrisiko ist ein Thema für die Sozialarbeiterin.
Nicht nur mit den Insassen selbst, sondern auch mit deren Angehörigen arbeitet Sarah Bösch. Sie fördert den Kontakt, sofern es aufgrund der Straftat natürlich möglich und erlaubt ist. Die 48-Jährige hört oft Lebensgeschichten, bei denen sie denkt, die Personen hätten keine Startchancen gehabt. «Wenn ich Akten über besonders brutale Taten lese, geht mir das nahe. Aber damit kann ich relativ gut umgehen und wieder abschalten.»
Wenn meine Kinder im Ausgang sind, habe ich etwas mehr Angst als früher, weil ich weiss, was alles passieren kann.
Einzig um ihre Kinder macht sie sich mehr Sorgen, seit sie im Gefängnis arbeitet. «Wenn meine Kinder im Ausgang sind, habe ich etwas mehr Angst als vorher, weil ich weiss, was alles passieren kann», sagt die Sozialarbeiterin.
Bösch begleitet die Insassen während ihrer ganzen Haftzeit und arbeitet mit ihnen auf eine Resozialisierung nach der Entlassung hin. Gerade das sei aber nicht immer einfach, denn die Gesellschaft habe grosse Vorurteile.
«Da habe ich manchmal etwas Mitgefühl mit den Insassen, weil ihnen zusätzliche Steine in den Weg gelegt werden», sagt sie. Nach der Entlassung ist es deshalb oft schwierig, eine Wohnung oder einen Job zu finden. «Manche melden sich nach einer Weile wieder bei mir und erzählen, was bei ihnen so läuft – das freut mich dann schon.»
Ivo Baumgartner, Justizfachmann
An ihm kommt kein Insasse der Strafanstalt Saxerriet vorbei: Ivo Baumgartner arbeitet als Justizfachmann im Betreuungs- und Sicherheitsdienst. Tritt ein neuer Straftäter seine Haftstrafe an, nimmt ihn Baumgartner in Empfang und bringt ihn zu seiner Zelle.
Das ist aber nur ein ganz kleiner Teil seines Jobs: «Im Bereich Sicherheit kümmere ich mich um alles im und um das Gelände. Briefe, Pakete und Zimmer werden kontrolliert, es kommt auch zu Leibesvisitationen nach Hausordnung», sagt Baumgartner.
In diesem Job wird man den ganzen Tag immer wieder ein wenig angelogen – es ist ein kleines Katz-und-Maus-Spiel.
Im Bereich der Betreuung gibt es am Morgen eine Vitalitätskontrolle, wie es dem Insassen geht. Danach macht Baumgartner Transporte, wenn ein Insasse beispielsweise zum Zahnarzt muss. Diese Vielseitigkeit gefällt ihm an seinem Beruf – auch wenn die Insassen nicht immer ganz ehrlich zu ihm sind.
«In diesem Job wird man den ganzen Tag immer wieder ein wenig angelogen – es ist ein kleines Katz-und-Maus-Spiel. Aber es bringt nichts, deswegen allen gegenüber misstrauisch zu sein und nur das Schlechte zu sehen, denn oftmals täuscht der erste Eindruck gewaltig», sagt der 50-Jährige. So versucht er, allen stets auf Augenhöhe zu begegnen und mit ihnen zu reden.
Der Justizfachmann ist nicht nur die erste Person, welche ein Insasse bei seinem Eintritt antrifft, sondern auch die Letzte, die er sieht. Denn nach der Freilassung fährt Baumgartner sie bis an den Bahnhof. «Dort findet dann die eigentliche Entlassung statt», sagt er. Eine Entlassung hinaus in die Freiheit und in ein – hoffentlich – neues Leben.