In der Schweiz leidet jede dritte Person an Einsamkeit – nicht erst seit Corona. Doch was ist Einsamkeit? Ein Gespräch mit dem Psychiater und Theologen Michael Pfaff. Er ist Direktor und Chefarzt der Clinica Holistica in Susch GR.
SRF: Herr Pfaff, Sie betonen immer wieder, dass wir uns eine Einsamkeitsfähigkeit anlegen müssen, um in Lebendigkeit leben zu können. Wie lernen wir Einsamkeitsfähigkeit?
Michael Pfaff: Wenn ich von Einsamkeitsfähigkeit spreche, geht es mir um die Akzeptanz vom Einsamkeitsempfinden. Es ist ein Teil, der zu mir gehört. Ich bin kommunikativ verbunden mit den Anderen, als Ich kann ich nur am Du werden. Der andere Pol dieser Vergemeinschaftung ist die Einsamkeit, so wie es auch der Philosoph Arthur Schopenhauer sagte: «Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit.» Das heisst: Erst wenn ich einsam bin, kann ich so richtig aufblühen, kann ich zu mir kommen, kann ich wirklich der sein, der ich bin. Viele Menschen haben sich schon in die Einsamkeit der Natur zurückgezogen oder machen das heute, indem sie in ein Retreat gehen.
Spricht man beim Rückzug in ein Retreat nicht eher von Alleinsein als von Einsamkeit?
Der Begriff der Einsamkeit hat eine lange Geschichte. Ich selber würde im Alltag keine Unterscheidung machen zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Kinder fühlen sich oft allein und sind dadurch gequält und traurig und weinen vielleicht sogar darüber. Wir Erwachsenen erleben heute in unserer modernen Gesellschaft Einsamkeit eher als eine Art Krankheit, als ein Begriff, der mit Scheitern und entsprechend auch mit schamhaften Gefühlen einhergeht. Aber von der Begriffsgeschichte her ist die Einsamkeit etwas, was intellektuelle Poeten, religiöse Menschen und Philosophen immer schon ganz bewusst gesucht und auch kultiviert haben.
Einsamkeit ist etwas, was Poeten, religiöse Menschen und Philosophen immer schon bewusst gesucht haben.
Was können Betroffene gegen Einsamkeit tun?
Der Griff zu Literatur, zu Papier und Stift, der Rückblick auf eigene, andere Lebenssituationen kann hilfreich sein. Ich muss mir bewusst sein, dass das Gefühl von Einsamkeit nur entstehen kann, wenn ich schon bessere Zeiten erlebt habe. Das heisst jetzt zum Beispiel an Heiligabend: Wenn ich mich alleine und isoliert fühle, könnte eine gute Art der Selbstbegegnung sein, das ich damit anfange, mir ganz wichtige, schöne, liebevolle und geborgene Momente meines Lebens vor Augen zu führen, in diesen auch zu schwelgen und mir dadurch klarzumachen, dass das Leben ein Fluss ist, der mich immer weiter führt – der mich schon durch viele Gegenden geführt hat und mich auch nach diesem 24. Dezember weiterführen wird. Die Einsamkeit ist ein Durchgang, ein wandelbarer Zustand, der auch wieder in bessere Zeiten münden wird.
Sie sagen, dass unter anderem der Griff zur Literatur ein Tipp wäre gegen Einsamkeit. Gibt es ein Buch, das Ihnen jeweils hilft, wenn Sie sich nicht so gut fühlen?
Ja, das gibt es, einen ganz engen Begleiter, den ich immer in der Tasche habe. Es ist « Der Prophet » von Khalil Gibran, der immer wieder betont, wie das Leben aus Polaritäten besteht, die sich in Form eines Gesetzes wiederholen. Es gibt kein Glück im Leben ohne Leid – und umgekehrt. Es gibt von Gibran auch ein Gedicht zur Selbsterkenntnis, in dem er im Wesentlichen sagt, dass wir nie Besitzer unseres Lebens oder unseres Selbst sein können, sondern immer nur versuchen können, über uns selbst zu staunen und das Leben, das uns antreibt und den Boden gibt, immer wieder als Unergründliches zu führen.
Das Gespräch führte Sandra Schiess.