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Wenn Dreadlocks ein ganzes Land bewegen
Aus Treffpunkt vom 02.12.2022. Bild: Keystone/Alexandra Wey
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Dreadlocks, Reggae, Winnetou Was bleibt von der Debatte um kulturelle Aneignung?

Weisse Reggae-Musiker mit Dreadlocks oder neue Winnetou-Bücher: Beide Fälle haben diesen Sommer eine Diskussion um kulturelle Aneignung befeuert. Wann sind kulturelle Anleihen problematisch? Wann legitim? Wie sieht ein angemessener Umgang damit aus?

Die Debatte war emotional und oft gehässig. Dennoch hat sie nicht nur zu verhärteten Fronten geführt, wie Sozialanthropologe Rohit Jain beobachtet. Er stellt auch eine wachsende Sensibilisierung fest.

Rohit Jain

Rohit Jain

Soziologe

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Rohit Jain ist Dozent am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Er ist schweizerisch-indischer Secondo und engagiert sich in diversen zivilgesellschaftlichen Projekten zu Antidiskriminierung und Antirassismus, so etwa im Projekt Schwarzenbach-Komplex zur kritischen Erinnerung an das Schweizer Gastarbeiterregime.

SRF: Wie haben Sie die Debatte um kulturelle Aneignung diesen Sommer wahrgenommen?

Rohit Jain: Mir ist aufgefallen, dass in Schweizer Medien und in der Öffentlichkeit wenig Vorwissen zum Thema da war, sodass viele zuerst überfordert waren. Das wiederum hat wohl auch die starken Emotionen geprägt. Und es hat zu teils absurden Vergleichen geführt, die das Anliegen lächerlich gemacht haben. Die wichtige Frage der Machtverhältnisse und Geschichte, welche hinter einem Kulturtransfer stehen, wurde aber lange nicht thematisiert.

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Aus dem Archiv: Berner Band bricht Konzert nach Vorwürfen ab
Aus SRF News Videos vom 28.07.2022.
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Sie sprechen absurde Vergleiche an. Was sind Beispiele, welche Ihnen in der Debatte begegnet sind?

Es wurde gefragt, warum in Japan klassische Musik gespielt werde, oder, warum man in Indien Jeans trage. Oder, ob man in der Schweiz überhaupt noch eine Pizza essen darf. Wobei letzteres durchaus eine Geschichte hat, welche es zu bedenken gilt. Seit den 1990er-Jahren wird «Italianità» gefeiert, die italienischen Einwanderinnen und Einwanderer, die Pizza in die Schweiz brachten, wurden zu «Lieblingsmigranten». Doch zuvor war der Umgang mit den italienischen Gastarbeitern alles andere als wohlwollend. Ich denke an das Saisonnier-Statut, an Beizenverbote, getrennte Familien.

In der Schweiz sieht man sich gerne als neutral, diplomatisch und humanitär.
Autor: Rohit Jain Soziologe

Ähnlich ist es mit Reggae: Es ist problematisch, Musikstil und Outfit zu übernehmen, ohne damit verbundene Machtverhältnisse anzuerkennen. Oder, dass schwarze Männer mit Rastas zum Beispiel nach wie vor regelmässig von der Polizei angehalten werden. Man kann als Gesellschaft nicht die Kultur von Migrantinnen und Migranten zelebrieren und ihnen gleichzeitig Rechte verweigern.

Die Debatte wurde emotional, teils gehässig geführt. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Ich denke, dass in der Mehrheitsgesellschaft zu wenig Bereitschaft und Wissen vorhanden ist, das Thema anzugehen. In der Schweiz sieht man sich gerne als neutral, diplomatisch und humanitär. Wenn Kritik laut wird, fällt der Umgang damit schwer.

Eine bekannte Debatte in Musik und Mode

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Beispiele für kulturelle Aneignung, die öffentliche Empörung ausgelöst haben, gab es in den letzten Jahren immer wieder.

  • Im März 2022 hat die Bewegung «Fridays for Future» in Deutschland die weisse Musikerin Ronja Maltzahn, die bei einer Demonstration auftreten sollte, wegen ihrer Dreadlocks wieder ausgeladen. Die Begründung: Mit Dreadlocks, der traditionellen jamaikanischen Frisur, eigne sie sich die Identität schwarzer Menschen an, die der Kolonialismus ausgebeutet habe.
  • Geflochtene Zöpfchen wiederum, wie sie etwa afroamerikanische Frauen tragen, wurden Katy Perry in einem ihrer Musikvideos zum Verhängnis. Der Vorwurf: Privilegierte Weisse wie Perry würden sich bei ausgegrenzten Kulturen bedienen und damit Millionen verdienen.
  • Ein weiteres Beispiel für kulturelle Aneignung: Mitte der 1990er-Jahre haben weisse Popstars wie Madonna das Bindi als modisches Accessoire eingeführt. Der rote Punkt auf der Stirn, den einige indische Frauen tragen, wurde schick – unabhängig von seiner spirituellen Bedeutung. Ursprünglich ist das Bindi ein Segenssymbol, das vor allem verheiratete Frauen tragen.

Es ist also kein Zufall, dass die Debatte um kulturelle Aneignung hierzulande so hohe Wellen geschlagen hat?

Die Schweiz hat über Jahrzehnte auf Neutralität gesetzt, wenn es um eine Aufarbeitung der Vergangenheit gegangen ist. Beispiele sind die Rolle im Zweiten Weltkrieg oder im Kolonialismus. Ich nenne es gerne den Mythos der weissen Weste: Wir hatten doch nichts damit zu tun.

Gerade bei jungen Menschen stelle ich eine grosse Sensibilität fest.
Autor: Rohit Jain Soziologe

Um die «Leichen im Keller» weiss man irgendwie schon, hat aber Angst davor, diese zu thematisieren. Wenn dann Themen wie Rassismus plötzlich angesprochen werden, fällt die Reaktion umso empörter aus.

Kulturelle Aneignung ist jetzt Thema geworden. Aber hat die Debatte wirklich etwas verändert?

Auf jeden Fall. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis eine vertiefte Diskussion begonnen hat. Doch gerade bei jungen Menschen stelle ich eine grosse Sensibilität fest. In den Städten hat durchschnittlich die Hälfte der Jugendliche Migrationshintergrund oder sie sind schwarz oder «of Color». Diese Fragen sind ihr Alltag. Ich merke, dass die Menschen in antirassistischen Bewegungen gestärkt wurden: Wir sind einen Schritt weiter.

Das Gespräch führte Vera Büchi.

Radio SRF 1 Treffpunkt, 02.12.2022, 10 Uhr;

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