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Ein Jahr «Ehe für alle» Kein Ansturm auf Standesämter

Vor einem Jahr wurden in der Schweiz die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen. Die Freude und Erleichterung in der queeren Community war gross. Doch in Sachen Gleichstellung gibt es nach wie vor viel Luft nach oben.

Den 1. Juli 2022 hat Roland Peterhans vom Zivilstandsamt der Stadt Zürich noch in guter Erinnerung: An diesem Tag wurden im Stadthaus die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen. Dies, nachdem die «Ehe für alle» im September 2021 vom Schweizer Stimmvolk deutlich angenommen worden war .

Peterhans beobachtete bei vielen Paaren eine grosse Freude und Erleichterung: «Homosexuelle Paare erreichten in dieser Hinsicht nun endlich Gleichstellung. Es war auch für uns auf dem Zivilstandsamt sehr schön zu sehen, wie glücklich diese Menschen sind.»

Der grosse Ansturm blieb aus

Im zweiten Halbjahr 2022 liessen sich 749 gleichgeschlechtliche Paare trauen, während 2234 eingetragene Partnerschaften in eine Ehe umgewandelt wurden. Zum Vergleich: In den Jahren zuvor wurden jährlich nur rund 600 bis 700 eingetragene Partnerschaften begründet.

Doch obwohl die Eheschliessungen deutlich zunahmen, blieb der grosse Ansturm laut Roland Peterhans aus: «Von den 1400 eingetragenen Partnerschaften in der Stadt Zürich wurden nur 300 in eine Ehe umgewandelt. Wir gingen davon aus, dass es ein höherer Prozentsatz sein würde.» Peterhans rechnet damit, dass sich die Anzahl Eheschliessungen in den kommenden Jahren wieder bei rund 700 einpendeln wird.

Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Partnerschaft

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Die eingetragene Partnerschaft wurde 2007 eigens und ausschliesslich für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen. Sie hat gegenüber der Ehe unter anderem folgende gewichtige Nachteile :

  • Keine erleichterte Einbürgerung der ausländischen Partnerin oder des Partners
  • Kein Zugang zu Fortpflanzungsmedizin (das heisst: zu künstlicher Befruchtung beziehungsweise Samenspende)
  • Keine gemeinsame Adoption von fremden Kindern. Seit dem 1. Januar 2018 ist die Stiefkindadoption möglich
  • Kein automatisches Recht am gemeinsamen Vermögen (ein entsprechender Vertrag kostet zusätzlich). Das hat auch Einfluss auf das Erbe
  • Keine Ansprüche auf die AHV der verstorbenen Person (Ausnahme: die überlebende Person hat ein minderjähriges Kind)

Seit einem Jahr können nun keine neuen Partnerschaften mehr eingetragen werden. Eingetragene Partnerschaften, die vor dem 1. Juli 2022 begründet wurden, bleiben bestehen.

Menschen, die ihre eingetragene Partnerschaft in eine Ehe umwandeln möchten, können das jederzeit auf dem Zivilstandsamt tun. Peterhans geht davon aus, dass die eingetragene Partnerschaft über die Jahre allmählich verschwinden wird.

Ungleichheiten bestehen noch immer

Die «Ehe für alle» sei ein wichtiger Meilenstein im Kampf für Gleichstellung, sagt Muriel Waeger, Co-Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) . Doch es gebe nach wie vor Ungleichheiten, etwa wenn es um den Kinderwunsch gehe: «Wenn man eine Samenspende in einer Schweizer Klinik bekommt, werden beide Partnerinnen als Mütter akzeptiert. Wenn man sie im Ausland oder im privaten Umfeld erhält, muss die nicht-biologische Mutter zuerst einen komplizierten Prozess durchlaufen, um ihr eigenes Kind zu adoptieren.»

Ob man eine künstliche Befruchtung in der Schweiz durchführen könne oder nicht, sei nicht zuletzt eine Frage des Geldes – weil die künstliche Befruchtung sehr teuer sei.

Queere Rechte unter Druck

Auch Pink Cross, die Dachorganisation der schwulen und bisexuellen Männer in der Schweiz , sieht im Bereich der Elternschaft noch Nachholbedarf, zum Beispiel bei der Anerkennung von Co-Parenting-Modellen, wie Geschäftsführer Roman Heggli sagt: «Wenn mehr als zwei Personen eine Familie haben möchten, dann sollte das rechtlich anerkannt werden.»

Ein anderes Problem ist die Anerkennung der Elternschaft im Fall von Leihmutterschaft. Da diese in der Schweiz verboten ist, weichen gewisse schwule Paare ins Ausland aus. Doch die Anerkennung des nicht-biologischen Vaters als Elternteil ist kompliziert oder bisweilen gar nicht möglich.

Ganz abgesehen von diesen konkreten Forderungen geht es laut Roman Heggli darum, die Rechte, die man sich erkämpft hat, nicht wieder zu verlieren: «Wir haben in den letzten Monaten gesehen, dass unsere Rechte unter Druck kommen, dass mit unseren Menschenrechten Wahlkampf gemacht wird. Das geht so weit, dass die Existenzberechtigung von trans und nonbinären Personen infrage gestellt wird. Das ist absolut inakzeptabel.»

Radio SRF 1, Morgengast, 29.06.2023, 07:15 Uhr

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