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Sitzende, stehende Menschen zwischen Zelten
Legende: Viele Syrerinnen und Syrer wollen wieder zurück in ihr Heimatland – sehen dort aber derzeit keine Zukunft, wie hier im Flüchtlingslager in Zahlé, Libanon. SRF / Rouven Born

Ein Jahr nach Kriegsende Geflüchtete im Libanon: Die «Sündenböcke» kehren nicht zurück

Vor einem Jahr wurde Syriens Präsident Baschar al-Assad gestürzt. Während seiner Herrschaft flüchteten 1,5 Millionen Menschen in den Libanon. Jetzt hofft das Land auf ihre Rückkehr nach Syrien – und macht sie für die wirtschaftliche Misere verantwortlich.

Basima (Name geändert) macht grosse Augen, als der SRF-Reporter sie fragt, warum sie nicht nach Syrien zurückkehrt. Ihre Antwort kommt blitzschnell, so als hätte sie dies schon unzählige Male erklären müssen: «Ich kann nicht, ich habe dort nichts mehr.»

Ihr Mann sei vor sechs Jahren nach Syrien zurückgereist, um die Pässe zu holen und um sich ein Bild der Lage zu machen. Seither ist er verschwunden. Basima vermutet eine Entführung. Heute lebt sie mit ihren drei Kindern allein in einem Flüchtlingscamp in Zahlé im Bekaa-Tal, nahe der syrischen Grenze.

Die Beeka-Ebene im Libanon

So wie Basima geht es vielen Geflüchteten, die nicht nach Syrien zurück wollen. Es fehle an Arbeitsplätzen, das Land habe sich noch immer nicht von den Kriegsjahren erholt und ihre Häuser sowie die gesamte Infrastruktur seien schlicht nicht mehr vorhanden.

Häufig bleiben Frauen und Kinder im Libanon, während Väter versuchen, in Syrien Arbeit zu finden. Manche kehren zurück, andere verschwinden – wie Basimas Mann.

Person vor Wellblechhütten in trockener Landschaft.
Legende: Von den 1,5 Millionen Geflüchteten aus Syrien sind rund 100'000 nach Syrien zurückgekehrt. Leere Plätze in den Flüchtlingslagern im Libanon zeugen davon. SRF / Rouven Born

Leben in prekären Verhältnissen

In der Bekaa-Ebene haben sich die meisten Geflüchteten aus Syrien niedergelassen. Die Zelte der rund 6000 Camps stehen auf privatem Grund. Die Familien müssen monatlich Miete an einen Grossgrundbesitzer bezahlen. Offizielle Stellplätze gibt es im Libanon nicht.

Wer eine staatliche Schule besuchen will, braucht entsprechende Papiere – die viele Geflüchtete nicht haben.
Autor: Islem Said Direktorin Hilfswerk Salam

Ihr Geld verdienen die Familien grösstenteils mit Feldarbeit. «Die Gefahr ist gross, dass Kinder arbeiten müssen, denn Familien sind auf jede Einkunft angewiesen», sagt Islem Said. Sie ist Direktorin des Hilfswerks «Salam», das versucht, dem entgegenzuwirken.

«Ohne Zugang zur Schule sind Kinder massiv gefährdet»

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SRF: Warum ist dieses Bildungsangebot hier wichtig?

Islem Said, Direktorin Hilfswerk Salam: Ohne Zugang zur Schule sind Kinder massiv gefährdet – von Kinderarbeit bis zu sexueller Ausbeutung oder Gewalt in der Gemeinschaft. Viele Familien können ihre Kinder nicht zur offiziellen Schule bringen oder haben das Geld nicht. Unser Zentrum ist für sie ein sicherer Ort, der nicht nur Bildung bietet, sondern auch psychologische Hilfe. Viele dieser Kinder haben Traumata – aus Syrien, von der Flucht oder aus dem Alltag hier, wo es oft Spannungen mit der lokalen Bevölkerung gibt.

Sie haben gesagt, viele Familien könnten ihre Kinder nicht in offizielle Schulen bringen. Warum nicht?

Es gibt mehrere Hürden: bürokratische Anforderungen, weite Schulwege, fehlendes Geld für Transport – und traditionelle Rollenbilder. Oft schicken Eltern ihre Kinder lieber arbeiten oder behalten vor allem Mädchen zuhause, statt sie zur Schule zu schicken.

Welche Zukunft haben die Kinder hier?

Es ist kompliziert. Ihre Perspektive hängt stark davon ab, welche Chancen wir ihnen bieten können. Bildung, psychologische Unterstützung und Stärkung der Familien können das Leben der Kinder verändern. Ohne diese Unterstützung sind sie in einem Land, das wirtschaftlich in der Krise steckt und Migration schlecht verwaltet – und das macht ihre Zukunft sehr ungewiss.

Also auch ein Schutz gegen Radikalisierung?

Absolut. Ohne Schule sind Kinder verletzlich, im Alltag auf sich gestellt und Risiken jeder Art ausgesetzt – gerade auch extremistischen Einflüssen.

Wie entscheiden Sie, wer Unterstützung erhält?

Wir kennen viele Familien seit Jahren. Wir nutzen eine umfassende Bedürfnisanalyse: wirtschaftliche Situation, Behinderungen, Anzahl Kinder, ob die Familie von einer oder mehreren Personen getragen wird. Dazu kommt die Distanz zum Zentrum. Wenn der Bedarf hoch ist, priorisieren wir jene, die nahe wohnen und besonders vulnerabel sind.

Sie beschäftigen syrische, palästinensische und libanesische Mitarbeitende. Funktioniert das gut?

Ja. Salam entstand 2006 als Solidaritätsbewegung während des Kriegs im Süden des Libanon. Unsere Richtlinien zu Nicht-Diskriminierung sind klar, und das Team teilt diese Haltung. Natürlich gibt es gelegentlich kleine Konflikte, das ist normal. Aber nach acht Jahren gemeinsamer Arbeit läuft es sehr gut.

Könnte dieses Modell auch für die libanesische Gesellschaft als Ganzes funktionieren?

Ich hoffe es. Unsere Arbeit kann Konflikte mindern und andere Realitäten aufzeigen. Aber der Libanon hat tieferliegende wirtschaftliche und politische Probleme. Unsere Projekte können helfen, dass die Situation nicht weiter eskaliert, aber für eine echte Veränderung braucht es mehr.

Das Interview führten Rouven Born (SRF) und Anouk Henry (RTS).

Die Organisation betreibt eigene Schulen, gibt Kindern eine Tagesstruktur und damit ein Stück Alltag zurück. Dazu gehört auch psychologische Unterstützung: Sie lernen, ihre Gefühle auszudrücken und schwere Erlebnisse einzuordnen. «Diese Kinder haben viel Leid erfahren. Sie haben Krieg erlebt, sie mussten ihre Heimat verlassen – das hinterlässt Spuren», sagt Said.

Kind an der Wandtafel mit Lehrerin.
Legende: Ziel ist es, sowohl Schutz als auch Zugang zu Bildung sicherzustellen, damit die Kinder trotz der äusserst schwierigen Umstände ein Stück Kindheit bewahren können. SRF / Rouven Born

Der Zugang zu öffentlichen Schulen bleibt für viele unerreichbar. Den Familien fehlt das Geld, und wer eine staatliche Schule besuchen will, braucht entsprechende Dokumente. «Diese Papiere haben viele Geflüchtete schlicht nicht», so Said.

Wachsende Fremdenfeindlichkeit

Gleichzeitig wächst der politische Druck auf eine baldige Rückkehr nach Syrien. Geflüchtete werden zunehmend für die wirtschaftliche Krise im Libanon verantwortlich gemacht und gelten als zusätzliche Belastung.

Laut Schätzungen sind etwa 100'000 Menschen aus dem Libanon nach Syrien zurückgekehrt – ähnlich viele sind wieder in den Libanon eingereist. Die politische Stimmung ist derart aufgeheizt, dass die Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer regelmässig instrumentalisiert wird. Der Staat kommuniziert deutlich höhere Rückkehrzahlen, um verschärfte Massnahmen zu rechtfertigen.

Rückkehrbewegungen nach dem Sturz der Assad-Regierung

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Seit 2011 haben mehr als 14 Millionen Syrerinnen und Syrer ihr Zuhause verlassen. Über 6 Millionen leben heute in den Nachbarländern Türkei, Jordanien und dem Irak; der Libanon hat mit rund 1,5 Millionen die meisten Geflüchteten aufgenommen.

Seit dem Sturz der Assad-Regierung im Dezember 2024 sind mehr als eine Million Menschen nach Syrien zurückgekehrt, darunter rund 300'000 aus den Nachbarstaaten und über 885'000 Binnenvertriebene. Davon gehen Schätzungen des UNO Flüchlingshilfswerks UNHCR aus.

Die Situation der Geflüchteten verschlechtert sich in den Aufnahmeländern weiter: Im Libanon leben über 90 Prozent der syrischen Geflüchteten in Armut, in Jordanien sind 93 Prozent der Haushalte verschuldet, und in der Türkei können 90 Prozent ihre Grundausgaben kaum decken.

Viele Familien kämpfen um Wasser, Strom, Nahrung, Medikamente und Wohnraum – und sind zunehmend Risiken wie Kinderarbeit, geschlechtsspezifischer Gewalt, Frühverheiratung und Ausbeutung ausgesetzt.

(Quelle: UNHCR)

Der Libanon steckt seit 2019 in einer schweren Krise. Ausgelöst wurde sie durch jahrzehntelange Misswirtschaft, politische Blockaden und tief verankerte Korruption. Im Korruptionsindex von «Transparency International» gehört das Land heute zu den Staaten mit den höchsten Korruptionswerten weltweit.

Immer wieder kommt es zu Razzien in Flüchtlingslagern. Syrerinnen und Syrer werden auf offener Strasse angegriffen. Auch ihr Schutz gehört zur Arbeit des Hilfswerks «Salam».

Radio SRF 1, Glückskette Solidaritätstag, 18.12.2025, 6:40 Uhr

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