Es war einmal im Bergdorf Jaun. Jeweils am Samstag vor dem eidgenössischen Betttag feierte man hier eine Tradition. Den Alpabzug. Da trieb man zuerst die Tiere ins Tal und gönnte sich danach ein Gläschen in der Beiz. Oder zwei.
Für uns ist es der schönste Tag im Jahr.
Dem Pfarrer wurde das zu heiter. Respektive zu trist. Kaum je erschienen seine Schäfchen am Sonntag nach dem Alpabzug in der Kirche. Und so ordnete er an: «Der Schafscheid wird auf den Montag verschoben.» Die Jauner folgten ihm. Auch heute noch findet der Alpabzug am Montag statt. Leider.
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Bild 1 von 6. Morgendämmerung ob Jaun. Hirte Stephan Buchs (r.) wirft einen letzten Blick auf die Herde, bevor es Richtung Tal geht. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
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Bild 2 von 6. Bekannte, Verwandte und die Dorfjugend. Alle helfen sie, die Schafe ins Dorf zu treiben. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
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Bild 3 von 6. Seit Juni waren sie auf der Alp am Schafberg. Heute werden sie ihren Besitzern zurückgegeben. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
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Bild 4 von 6. Auch die Lämmer der Walliser Schwarznasenschafe, die fast blind der Herde hinterher traben. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
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Bild 5 von 6. Der «Schafscheid» ist aber auch ein traditionelles Volksfest. Stephan Buchs (l.) schmückt eines der Schafe für den Umzug. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
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Bild 6 von 6. Im Dorf Jaun werden die Herden von vielen angereisten Besuchern und Einheimischen empfangen. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp .
Denn hätte der traditionelle Schafscheid dieses Jahr am Samstag stattgefunden – bei sommerlichen Temperaturen - es wäre ein Alpabzug wie aus dem Bilderbuch geworden. Doch «hätte – hätte – Fahrradkette». Am Montag regnete es in Strömen.
Auf der Alp ob Jaun ist es am frühen Morgen mucksmäuschenstill. Pflotschnasse Schafe, die stehen einfach nur da. Das Wetter scheint ihnen egal zu sein.
Die Akustik ändert sich jedoch abrupt. Hirte Stephan Buchs beginnt, seine 365 Tiere zusammenzutreiben. Klar hätte er sich anderes Wetter gewünscht. «Aber es ist und bleibt für uns der schönste Tag im Jahr.» Er sei immer erleichtert, wenn er die Schafe nach der Sömmerung heil den Eigentümern zurückgeben könne.
Früher hatten wir zehn Herden mit 2000 Schafen. Heute noch zwei.
Damit das heute klappt, wird er von der halben Verwandtschaft unterstützt. Mit Hirtenstöcken begleiten und leiten Helfer die Herde talwärts. Vor dem Dorf ein letzter Halt. Stephans Frau Annie Buchs hat mit Kolleginnen Blumen aus Papierservietten gebastelt. Die Schafe werden geschmückt.
Von einem Speaker werden die «Pempelìnì», wie sie den Schafen auf Jaundeutsch sagen, via Lautsprecher angekündigt. Zwei Schafherden werden bejubelt. Es sind circa 500 Tiere. Schaulustige unter Regenschirmen säumen die Dorfstrasse.
«Früher, in den 1960er-Jahren, hatten wir hier zehn Herden mit 2000 Schafen», erinnert sich der ehemalige Hirte Mario Buchs. Die Schafe wurden mit den Jahren weniger. Die auswärtigen Gäste dafür zahlreicher. Bis zu 6000 Besucher zählte man in vergangenen Jahren. Jaun hat 660 Einwohner.
Für die Gemeinde ist der Schafscheid ein Verlusttag.
«Vieles sind Exil-Jaunerinnen und Heimweh-Jauner. Für den Schafscheid kommen sie zurück», weiss Tanja Buchs. «Das hat Tradition. Da trifft man sie alle wieder.» Sie ist als Gemeinderätin zuständig für die Organisation des Anlasses.
Genügend Freiwillige zu finden, sei die grösste Challenge gewesen. Und sie fügt hinzu: «Ja, es ist der schönste Tag im Jahr. Aber finanziell ist er für die Gemeinde ein Verlustgeschäft.» Anders sieht es für die Schafbesitzer aus.
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Bild 1 von 5. «Schafscheid» heisst der Anlass, weil die Tiere heute geschieden werden. Jeder Besitzer nutzt eine andere Farbe. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp.
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Bild 2 von 5. Manches Schaf kommt aber nicht zurück in den Stall, sondern auf die Waage. Händler, Metzgereien und Wanderhirten kaufen am Schafscheid Schafe. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp.
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Bild 3 von 5. Am Schafscheid findet auch immer ein Handwerks- und Spezialitätenmarkt statt. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp.
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Bild 4 von 5. Dieser Händler schnitzt traditionelle Rahmlöffel. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp.
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Bild 5 von 5. Und wenn die Schafe verkauft, verladen oder im Stall sind, wird in Jaun gefeiert. Der Montag des Schafscheids ist ein lokaler Feiertag. Bildquelle: SRF / Fabio Flepp.
Während manch Besucher bereits in einen Lammspiess beisst, findet am anderen Ende des Dorfes nun der eigentliche Schafscheid statt. Hirte Stephan und seine Helfer scheiden die Tiere. Heisst: Sie sortieren die Schafe und geben sie den Besitzern zurück.
Einzelne Schafe werden an der Leine in eine unscheinbare Garage geführt. Diese fungiert jeweils am Schafscheid Auktionshaus. Die Lämmer und Böcke werden gewogen, bewertet, verkauft. An Händler, Metzgereien und Wanderhirten. «Die Preise sind gut», berichtet Schafbesitzer Daniel Buchs. Bis zu 320 Franken gebe es heuer für ein Schaf.
Und all die anderen Schafe? Die stehen dicht an dicht in den Gattern an der Dorfstrasse. Pflotschnass. In Gedanken sind sie vielleicht noch auf der Alp. Dort, wo es so schön ruhig war. In Jaun aber, da wird jetzt zuerst noch ordentlich «gchilbenet». Es läuft Après-Ski-Musik. In die Kirche muss am Dienstag niemand.