45 Minuten lang steckt er fest. Kein Vor und kein Zurück. Kälte, Tropfwasser, Panik. «Das war der Moment, in dem ich am meisten Angst hatte», sagt Hans Moor über eine Expedition im Sulzfluh-Höhlensystem in Graubünden.
Seine eigentliche Heimat als Höhlenforscher ist jedoch das Hölloch im Muotathal, eines der grössten Höhlensysteme der Schweiz. Und er weiss, wie nah Abenteuer und Lebensgefahr beieinanderliegen.
Mit 17 nimmt ihn sein älterer Bruder erstmals mit ins Hölloch. Elf Stunden lang kriecht er durch enge Schächte, nass, kalt, erschöpft. «Das hat mich gepackt», sagt Hans Moor. Seither zieht es ihn stets unter die Erde.
Der gelernte Baumschulist wächst im Zürcher Unterland auf. Sein Vater weckt früh die Liebe zur Natur: Pilze, Vögel, draussen sein. Doch Moor zieht es in Welten, die kaum jemand sieht. Nach der Lehre verbringt er ein Jahr in einer deutschen Baumschule: spannend, landschaftlich aber «zu flach». Er kehrt zurück – in die Berge, in die Höhlen.
Spektakulärer Fund in Graubünden
Im Sulzfluh-Höhlensystem im Kanton Graubünden stösst Moor mit Kollegen auf eine Sensation: Bärenknochen, die später auf rund 80’000 Jahre datiert werden. «Ein Schädel, Kiefer, Knochen – alles in einer Höhle mit engem Eingang», erzählt er. Fachleute bestätigen: ein seltener Fund in Europa. Im Hölloch fand er einen handgrossen Ammoniten im Schwemmschutt nach einem Hochwasser – ein seltener Lottosechser.
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Bild 1 von 2. In der Sulzflue im Kanton Graubünden entdeckte Hans Moor zusammen mit Kollegen jahrtausendealte Bärenknochen. Fachleute datierten sie auf rund 80’000 Jahre – ein seltener Fund in Europa. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
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Bild 2 von 2. Der grösste Ammonit, den Hans Moor im Hölloch entdeckt hat: Das Fossil eines urzeitlichen Meerestiers ist bis heute einer seiner spektakulärsten Funde. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
Zwei Jahrzehnte lang war Moor Biwak-Chef im Hölloch. Er richtete Schlafplätze ein, sogar ein Fondue-Stübli tief im Berg. «Unter Tropfsteinen Raclette essen – unvergesslich». 2005 zerstörte ein Unwetter sein Biwak. «Das tat weh – aber in der Höhle entscheidet die Natur.»
Gefangen im Fels
Wie gefährlich die Unterwelt sein kann, zeigt die Episode im Sulzfluh-Höhlensystem, mit der dieser Artikel beginnt. Bei einer Tour bleibt Moor in einem engen Gang stecken – 45 Minuten lang. Kein Vor und kein Zurück. «Das war der Moment, in dem ich am meisten Angst hatte.» Kälte, Tropfwasser, kein Vor und kein Zurück. Panik stieg auf, er dachte an Herzstillstand.
Zum Glück – sonst wäre es vielleicht nicht gut ausgegangen.
Mit letzter Kraft gruben ihn seine Begleiter frei, schützten ihn mit Decke und Kerzen vor dem Auskühlen. «Zum Glück – sonst wäre es vielleicht nicht gut ausgegangen.» Heute, mit Abstand, sagt er: «Es hat sich gelohnt. Wir entdeckten wunderschöne neue Gänge.» Heute führt Moor Besuchergruppen ins Hölloch.
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Bild 1 von 5. Der Eingang ins Hölloch im Muotathal: Von hier aus führt Hans Moor Besuchergruppen in die Unterwelt. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
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Bild 2 von 5. Hans Moor führt Gruppen ins Hölloch. Manche überschätzen sich – am Ende sorgt er dafür, dass alle wieder hinausfinden. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
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Bild 3 von 5. Unterwegs im Hölloch: Für Besuchergruppen gibt es Rastplätze, wo Moor erzählt und Orientierung gibt. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
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Bild 4 von 5. Wanderer überschätzen sich leicht – steile Passagen im Hölloch zeigen, wie anspruchsvoll die Touren sind. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
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Bild 5 von 5. Nicht jeder ist für enge Gänge gemacht. Hans Moor kennt die Tücken – und führt seine Gruppen sicher hindurch. Bildquelle: ZvG / Hans Moor.
Einmal verlief er sich mit einer Gruppe leicht, «aber wir kamen eine Viertelstunde vor der Zeit wieder raus». Asiatische Touristinnen und Touristen reisen mit Rollkoffern an, Wanderer überschätzen sich regelmässig. Moor weiss, wie viel Verantwortung an ihm hängt. «Willkommen im Tal und im Loch», sagt er zum Start jeder Tour – und trägt Sorge, dass alle wieder hinausfinden.
Die gerettete Fledermaus
Nicht nur Menschen verdanken ihm ihr Leben. Bei einem Hochwasser entdeckte Moor eine Fledermaus, die fast von den Fluten erfasst worden wäre. Er nahm sie auf die Hand und setzte sie an einem sicheren Ort aus. «Sie flog ein paar Runden um mich, dann war sie weg.»
Hans Moor kennt die Dunkelheit, die Enge, die Schönheit der Unterwelt. Seine Geschichten zeigen, wie nah Abenteuer und Gefahr beieinanderliegen. «Die Höhle gibt dir unvergessliche Momente», sagt er. «Aber sie fordert immer Respekt.» Und genau dieser Respekt hält ihn bis heute im Bann der Tiefe.