Im Zug meiner Recherchen zum Schweizer Filmemacher Ernst A. Heiniger , der Mitte des 20. Jahrhunderts in Hollywood Karriere machte, stiess ich auf Gerüchte eines frühen Schellen-Ursli-Films. Produziert von niemand Geringerem als Walt Disney.
Verschollen zwischen Guarda und Hollywood
In den 1950er-Jahren soll dieser Schellen-Ursli-Film von einer Hollywood-Crew in Guarda (GR) gedreht worden sein – und löste sich anschliessend in Luft auf. Niemand hat ihn je gesehen. Was hat es mit diesem Film auf sich? Wurden wir um ein Kulturgut betrogen? Das will ich herausfinden.
Von spanischen Nüsschen und endlosen Drehtagen
Mit dem Postauto fahre ich nach Guarda ins Unterengadin, dann weiter zu Fuss nach Bos-cha. Hier empfangen mich Not und Tilly Schlegel, heute 77- und 78-jährig. Gerade waren sie heuen und sind bester Laune.
Vor uns liegen fünf Fotos – alles, was von den Dreharbeiten 1952/53 übriggeblieben ist. Sie zeigen Not und Tilly als Schellen-Ursli und Flurina. Autorin Selina Chönz habe Not dem Filmteam aus Hollywood empfohlen, erinnert er sich. «Sie sagte immer, ich sei ihr Schellen-Ursli.»
Die beiden erinnern sich gut an «die Amerikaner», die das Dorf zwei Sommer lang belagerten. Obwohl der Kameramann und Regisseur Schweizer war – Ernst A. Heiniger nämlich. Sehr gross und freundlich sei der gewesen, fast wie ein Vater, erinnert sich Not, der den eigenen Vater mit zwölf Jahren verlor und auf dem Hof mitanpackte, seit er denken kann.
SRF-Filmtipp
Unzählige Male mussten die Szenen wiederholt werden: Das Heuen, das Nachtessen, das Geissen-Hüten. Ziegen halte man übrigens am besten mit spanischen Nüsschen bei Laune, verrät Not.
Ein Schellen-Ursli-Film oder nicht?
Mit den Amerikanern verschwand nach zwei Jahren auch der Film. Das Leben ging weiter, die Verbindung zwischen Not und Tilly blieb – sie heirateten zwölf Jahre später.
Gerne würde ich Ernst A. Heiniger persönlich über den Film ausfragen, doch er starb 1993 in Hollywood. Meine Suche führt mich also über Presse- und Disney-Archive und endet in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur, die gerade Heinigers Erbe aufarbeitet: Fotos, Dias, Negative, Schriftwaren.
Darin der entscheidende Hinweis: Ein Artikel aus der Zeitschrift «Die Woche» beschreibt die damaligen Dreharbeiten in Guarda. Von einem Schellen-Ursli-Film lesen wir allerdings kein Wort. Gedreht wurde tatsächlich ein Film namens «Die Schweiz», den ich wenig später in einem Berner Archiv finde. Er zeigt Guarda, Not und Tilly. Aber auch viele andere Orte der Schweiz. Einen Schellen-Ursli-Film gab es wohl nie. Warum man das meinte, bleibt ein Geheimnis.
Auch wenn es sich nicht um keinen Schellen-Ursli-Film handelt: Für Not und Tilly Schlegel schliesst sich nach fast 70 Jahren doch ein Kreis. Endlich sehen sie den Film, in dem sie als Kinder spielten.
Eintauchen in die Vergangenheit
Die beiden sitzen auf der Holzbank vor dem Haus in Bos-cha und schauen erwartungsvoll auf den Screen. Sie lachen, sind gerührt. Sehen sich zu, wie sie als Kinder Geissen hüten, mit den heute längst verstorbenen Eltern heuen oder Schmalzbrei essen. Viele Szenen fehlen. Dass sie nicht wie angenommen Schellen-Ursli und Flurina waren, ist für einen Moment verwirrend. Aber nicht weiter wichtig. Not bleibt Selina Chönz’ Schellen-Ursli. Und Tilly schlägt lachend vor: «Du kannst ja nochmals einen Film machen.» Da ist Not schon aufgestanden. Es muss noch geheut werden.