Zum Inhalt springen

Liebe und Autismus Was bedeutet das für eine Beziehung?

Wer autistisch ist, ist am liebsten allein, hat keine Gefühle und ist nicht empathisch. «Das stimmt überhaupt nicht», sagt Tanja Chvojan zu diesen Vorurteilen, die sich jedoch hartnäckig halten. «Ich kenne viele Menschen mit Autismus in Beziehungen: verheiratet, mit Kindern, hetero- und homosexuelle… alles Mögliche.»

Schwierigkeiten beim Flirten

Der beste Beweis sind sie und ihr Schatz Philipp Dietrich. Vor über 10 Jahren lernten sie sich in ihrem damaligen Arbeitsbetrieb kennen. «Ich habe Philipp nicht gesucht. Er begegnete mir einfach und es machte PENG», erzählt Tanja. Sie habe ihn danach für zwei Dates gefragt. Wobei, Philipp sah das Ganze etwas anders: «Für mich waren das keine Dates. Ich dachte, wir würden uns rein freundschaftlich treffen.» Erst nachdem Tanja ihm ihre Liebe in einem Brief gestand, war die Sache klar. «Sie hat mich kalt erwischt, ich brauchte noch etwas Zeit», so Philipp. Doch schliesslich hätten sie es gewagt – zum Glück!

Flirten und nonverbale Kommunikation müssen wir mühsam lernen, wie eine Fremdsprache
Autor: Philipp Dietrich (28) Diagnostizierter Autist

Mit den unausgesprochenen Regeln der Kommunikation tun sich Menschen mit Autismus tendenziell schwer. Philipp bereitet es Probleme, Gesagtes zu interpretieren, Mimik, Tonfall oder die Körpersprache seines Gegenübers zu deuten: «In der alltäglichen Kommunikation und besonders beim Flirten, fällt mir das sehr schwer.». «War stehts bemüht» würde wohl in seinem Zeugnis stehen, schmunzelt er. «Wir müssen das schwer lernen. Wie eine Fremdsprache. Ich komme nie an einen Muttersprachler heran, egal wie sehr ich mich anstrenge.»

Für Tanja ist es etwas einfacher. «Weil ich diese Signale gelernt habe. Durch meine Mutter und meinen Freundeskreis. Ich konnte mir das merken und kann es auch selber anwenden. Ich schneide mir quasi eine Scheibe «neurotypisch» ab.»

Diagnose Autismus

Box aufklappen Box zuklappen

In der Schweiz leben schätzungsweise 1-2% der Bevölkerung mit der Diagnose Autismus. 3 Fragen an Barbara Wegrampf, Fachperson Autismus bei der Organisation «Autismus deutsche Schweiz»:

SRF: Was bedeutet es, mit Autismus zu leben?

Barbara Wegrampf: Es ist eine Entwicklungsstörung, aber es gibt zahlreiche Ausprägungen. Menschen mit Autismus nehmen ihre Umwelt anders wahr. Das beeinflusst ihr ganzes Leben.

Wo tun sich Menschen aus dem Autismusspektrum tendenziell schwer in Bezug auf Beziehungen und das Kennenlernen anderer Menschen?

Viele sind einsam, weil sie nicht wissen wie sie auf Leute zugehen sollen. Vielleicht, weil sie schon oft abgeblitzt sind aufgrund ihrer direkten Art. Menschen mit Autismus wissen oft nicht, wie sie das Gegenüber in ein Gespräch involvieren können. Vieles, was andere intuitiv tun, müssen sie erlernen, wie etwa soziale Regeln oder soziale Kompetenzen.

In anderen Ländern gibt es spezielle Datingplattformen für Menschen im Spektrum. Wie sieht es in der Schweiz aus?

Aktuell gibt es das nicht. Eine Datingplattform allein würde auch nicht reichen. Sie brauchen Unterstützung in der Übersetzung: Damit sie Reaktionen verstehen und gewisse Dinge üben können. Wie spreche ich, wie gehe ich auf jemanden ein? Es wäre wichtig, dass Menschen mit Autismus da auch begleitet werden.

Wo bemerken sie selbst die autistischen Seiten in der Beziehung? Routinen sind wichtig. Philipp muss sein Essen geordnet auf dem Teller haben, Tanja mag abends nicht mehr kuscheln, wenn sie in den Einschlafmodus kommen will. Spontanaktionen im Alltag? Lieber nicht! Menschen mit Autismus brauchen Vorhersehbarkeit, damit sie sich auf Neues einlassen können. Unsicherheit oder unvorhersehbare Situationen können grossen emotionalen Stress auslösen.

Ehrlichkeit als grosses Plus

Tanja und Philipp sind ein eingespieltes Team. Sie lassen einander Raum, Privatsphäre - und bestärken sich gegenseitig. Konflikte lösen sie zwar liebevoll, aber oft auf einer sachlichen Ebene, so Philipp: «Wir arbeiten viel an unserer Beziehung und gehen Probleme analytisch an.»

Bei einem Autisten weisst du woran du bist.
Autor: Tanja Chovjan (27) Diagnostizierte Autistin

Exklusivität und Ehrlichkeit seien das, was ihre Beziehung besonders macht und sie vielleicht auch von anderen Beziehungen unterscheidet. «Wir sind direkt. Das kann zwar auch treffen, aber am Ende ist es ein grosses Plus: Bei einem Autisten weisst du einfach, woran du bist», so Tanja.

Tanja und Philipp erwarten nicht, dass das Gegenüber von selbst merkt, wie es dem anderen gerade geht. Gefühle und Situationen werden klar und konkret angesprochen. Sie interpretieren nicht und fragen nach, wie etwas gemeint ist. Und sie pflegen die «Low-Mantik» genauso wie die Romantik. «Low-Mantik» - diesen Begriff nutzen sie, um Situationen beschreiben, wenns gerade mal nicht so romantisch zu und her geht.

Kein Lesen zwischen den Zeilen, keine Spielereien, absolute Ehrlichkeit, ein analytisches Vorgehen anstelle emotionaler Diskussionen: Je länger man Tanja und Philippe zuhört, desto mehr kriegt man das Gefühl, dass es auch uns «Neurotypischen» gut tun würde, wenn wir uns ab und an eine Scheibe «autistisch» abschneiden würden.

Radio SRF 3, Input Teaser, 6. Mai 2021, 15-16 Uhr

Meistgelesene Artikel