Wer autistisch ist, ist am liebsten allein, hat keine Gefühle und ist nicht empathisch. «Das stimmt überhaupt nicht», sagt Tanja Chvojan zu diesen Vorurteilen, die sich jedoch hartnäckig halten. «Ich kenne viele Menschen mit Autismus in Beziehungen: verheiratet, mit Kindern, hetero- und homosexuelle… alles Mögliche.»
Schwierigkeiten beim Flirten
Der beste Beweis sind sie und ihr Schatz Philipp Dietrich. Vor über 10 Jahren lernten sie sich in ihrem damaligen Arbeitsbetrieb kennen. «Ich habe Philipp nicht gesucht. Er begegnete mir einfach und es machte PENG», erzählt Tanja. Sie habe ihn danach für zwei Dates gefragt. Wobei, Philipp sah das Ganze etwas anders: «Für mich waren das keine Dates. Ich dachte, wir würden uns rein freundschaftlich treffen.» Erst nachdem Tanja ihm ihre Liebe in einem Brief gestand, war die Sache klar. «Sie hat mich kalt erwischt, ich brauchte noch etwas Zeit», so Philipp. Doch schliesslich hätten sie es gewagt – zum Glück!
Flirten und nonverbale Kommunikation müssen wir mühsam lernen, wie eine Fremdsprache
Mit den unausgesprochenen Regeln der Kommunikation tun sich Menschen mit Autismus tendenziell schwer. Philipp bereitet es Probleme, Gesagtes zu interpretieren, Mimik, Tonfall oder die Körpersprache seines Gegenübers zu deuten: «In der alltäglichen Kommunikation und besonders beim Flirten, fällt mir das sehr schwer.». «War stehts bemüht» würde wohl in seinem Zeugnis stehen, schmunzelt er. «Wir müssen das schwer lernen. Wie eine Fremdsprache. Ich komme nie an einen Muttersprachler heran, egal wie sehr ich mich anstrenge.»
Für Tanja ist es etwas einfacher. «Weil ich diese Signale gelernt habe. Durch meine Mutter und meinen Freundeskreis. Ich konnte mir das merken und kann es auch selber anwenden. Ich schneide mir quasi eine Scheibe «neurotypisch» ab.»
Wo bemerken sie selbst die autistischen Seiten in der Beziehung? Routinen sind wichtig. Philipp muss sein Essen geordnet auf dem Teller haben, Tanja mag abends nicht mehr kuscheln, wenn sie in den Einschlafmodus kommen will. Spontanaktionen im Alltag? Lieber nicht! Menschen mit Autismus brauchen Vorhersehbarkeit, damit sie sich auf Neues einlassen können. Unsicherheit oder unvorhersehbare Situationen können grossen emotionalen Stress auslösen.
Ehrlichkeit als grosses Plus
Tanja und Philipp sind ein eingespieltes Team. Sie lassen einander Raum, Privatsphäre - und bestärken sich gegenseitig. Konflikte lösen sie zwar liebevoll, aber oft auf einer sachlichen Ebene, so Philipp: «Wir arbeiten viel an unserer Beziehung und gehen Probleme analytisch an.»
Bei einem Autisten weisst du woran du bist.
Exklusivität und Ehrlichkeit seien das, was ihre Beziehung besonders macht und sie vielleicht auch von anderen Beziehungen unterscheidet. «Wir sind direkt. Das kann zwar auch treffen, aber am Ende ist es ein grosses Plus: Bei einem Autisten weisst du einfach, woran du bist», so Tanja.
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Tanja und Philipp erwarten nicht, dass das Gegenüber von selbst merkt, wie es dem anderen gerade geht. Gefühle und Situationen werden klar und konkret angesprochen. Sie interpretieren nicht und fragen nach, wie etwas gemeint ist. Und sie pflegen die «Low-Mantik» genauso wie die Romantik. «Low-Mantik» - diesen Begriff nutzen sie, um Situationen beschreiben, wenns gerade mal nicht so romantisch zu und her geht.
Kein Lesen zwischen den Zeilen, keine Spielereien, absolute Ehrlichkeit, ein analytisches Vorgehen anstelle emotionaler Diskussionen: Je länger man Tanja und Philippe zuhört, desto mehr kriegt man das Gefühl, dass es auch uns «Neurotypischen» gut tun würde, wenn wir uns ab und an eine Scheibe «autistisch» abschneiden würden.