«Ich soll Dir einen Gruss von Petra ausrichten», sagt mein Mitbewohner, als er eines abends nach Hause kommt. ‹Von Petra?›, frage ich mich. ‹Warum lässt Petra mich grüssen?›
«Sprich lauter, Petra! Sprich lauter!»
Petra und ich, wir gingen zusammen zur Schule. Ich war eine der Wortführerinnen in der Klasse. Petra war eine Aussenseiterin. Sie war scheu, sprach leise und meldete sich nur selten zu Wort. Beim Sport wurde sie immer als Letzte gewählt.
«Schwabbelarsch», riefen wir ihr nach. Wenn sie doch einmal ihre Hand aufstreckte, äfften wir sie nach oder lachten sie aus. «Sprich lauter», höre ich mich von hinten links rufen. «Wir hören dich nicht, Petra, sprich lauter!»
Was geht in Kindern vor, die gemobbt werden?
Vor zwei, drei Jahren habe ich Petra einmal beim Einkaufen getroffen und ihr ‹Hallo› gesagt. Danach schickte sie mir eine Freundschaftsanfrage auf Facebook. Nun dieser Gruss. Petra geht mir nicht mehr recht aus dem Kopf, zumal ich fürs Radio an einer Sendung über Mobbing arbeite. War das Mobbing, was ich gemacht habe? Was geht in Schulkindern vor, die systematisch verspottet und ausgelacht, die gemobbt werden? Was ist in Petra vorgegangen?
Ich beschliesse, es herauszufinden. Mitten im Lockdown rufe ich Petra an und frage, ob sie es sich vorstellen könnte, in einer Radio-Sendung mitzumachen. Nur mit Vornamen, im Internet ohne Foto. Sie ist es. An einem frühen Abend anfangs September ist es soweit. Wir treffen uns auf dem Hof unserer alten Schule.
«Bitte öffnet das Loch, ich möchte darin verschwinden»
Petra wartet schon auf mich, als ich auf dem Schulplatz eintreffe. Nervös sind wir beide, wie sich später herausstellen wird. Aber: «Ich habe beschlossen, die Konfrontation einzugehen», sagt Petra. Wir öffnen die Tür zu unserem alten Schulhaus und treten ein in die Vergangenheit.
Wie kannst du mit einer wie mir, die dich so geplagt hat, wieder reden?
Es begann etwa in der zweiten Klasse damit, dass Petra ausgelacht wurde, man ihr gemeine Dinge hinterherrief und sie bei Spielen ausschloss. «Ich hatte ein schlechtes Selbstwertgefühl, dachte, ich sei es nicht Wert mitmachen zu dürfen», erinnert sie sich. Am liebsten wäre sie einfach still an ihrem Pult gesessen und hätte in Ruhe gerechnet und gelesen ohne dass jemand sie wahrnahm. Gut war sie nämlich in der Schule. Wahrscheinlich habe sie die ganze Situation gar nie richtig erfasst, sagt sie heute.
Was tun gegen Mobbing?
In der Unterstufe war die Situation noch einigermassen erträglich, weil die Lehrerin das Mädchen forderte. Sie sah, dass es ihm am besten ging, wenn es beschäftigt war und gab ihm häufig Zusatzaufgaben. Das stärkte das geringe Selbstwertgefühl von Petra mindestens ein wenig.
Der Fünftklasslehrer riss selber auch Witze
Nach einem Schulhaus- und Lehrerwechsel in der fünften Klasse brachen jedoch alle Dämme. Vom neuen Lehrer war keine Unterstützung mehr zu erwarten. Anstatt ihr zu helfen, riss er selber auch noch Witze über Petra. Zuhause erzählte sie nie gross von der Situation auf dem Schulhof. «Ich dachte, das müssten Kinder unter sich selber regeln.»
Hinter Mobbing steht ein ganzes System. Die Verantwortlichen haben die Chance, dieses System zu durchbrechen.
Erzählte sie doch einmal etwas, riet man ihr, «zurückzugeben». Leicht gesagt, aber schwer getan für so ein schüchternes Mädchen wie Petra. «Ich hätte gerne lauter geredet oder mich gewehrt. Aber das ging einfach nicht», sagt sie. Petra wünschte sich ein Loch im Boden, in dem sie einfach verschwinden konnte.
Die Verarbeitung dauert lange
30 Jahre später am gleichen Ort sieht Petra mich an und sagt: «Das alles hat mich sehr verletzt. Aber gebrochen hat es mich nicht.» Nach der Schule macht Petra eine Lehre, die sie erfolgreich abschliesst, knüpft Freundschaften und beginnt ein anderes Leben. Doch es dauert noch lange, bis sie die Ereignisse ganz hinter sich gelassen hat. Sie merkt, dass sie Vieles sehr persönlich nimmt, auch wenn es gar nichts mit ihr zu tun hat.
Das alles hat mich sehr verletzt. Aber gebrochen hat es mich nicht.
Erst mit 30 Jahren bei einem Kurs in autogenem Training merkt sie, dass sie ihre Kindheits-Erlebnisse aufarbeiten muss. Dass die vielen Magenentzündungen, die sie als Mädchen hatte, nicht bloss Zufall waren. Sie lernt zu entspannen, arbeitet an ihrem Selbstwertgefühl. Und: Sie kriegt eine medizinische Erklärung für das, wofür wir sie einst verspottet haben: Sie hat ein Lymphödem, eine Fettverteilungsstörung im Körper. «Das ist eine chronische Krankheit», sagt sie, «früher konnte man das noch nicht benennen.»
Mitverantwortlich sind alle
«Wie kannst Du mit einer wie mir, die dich so geplagt hat, wieder reden?», frage ich sie. «Du warst nicht die Einzige», entgegnet sie. «Ich sehe dich als Teil einer Gruppe». Hier unterscheidet sich unsere Erinnerung. Während ich mich klar als Rädelsführerin sehe, hat Petra mich als ein Kind unter mehreren in Erinnerung. Schlimm war nicht nur ich. Schlimm war auch die Gruppe. Schlimm war, dass es ununterbrochen geschah.
«Du hast schon einiges wettgemacht, als du mich damals beim Einkaufen mit Vornamen begrüsst hast», sagt Petra. Das habe sie sehr gefreut.
Das Klima in der Klasse und die Bereitschaft aller sich gegen Mobbing einzusetzen sind zentral.
Was wünscht sich Petra für andere Schüler und Schülerinnen, die gemobbt werden? Dass man Krankheiten, wie sie sie zum Beispiel gehabt habe, beim Namen nenne. Und in einer Gruppe offen über Mobbing, Mobber und Gemobbte spreche. Gerade in Schulklassen.
Auch Experten bekräftigen das: Verantwortliche hätten eine Chance, ein System zu durchbrechen, sagt zum Beispiel Alex Maspoli, Coach für Selbstsicherheit. Aber mitverantwortlich seien am Schluss alle.
«Ich habe mich mit meiner Vergangenheit versöhnt», sagt Petra mir mehrmals. Das Geschehene sei ein Teil von ihr, aber sie habe es verarbeitet.
Gäbe es eine Klassenzusammenkunft, so würde Petra kommen.