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Grammatikalische Besonderheit Wo man «verhaftet kommt» statt «verhaftet wird»

Bündnerdeutsch, Walliserdeutsch und Senslerdeutsch sind besonders. Sie verwenden «kommen» statt «werden» – möglicherweise ein Einfluss aus den romanischen Nachbarsprachen.

Wer Senslerdeutsch spricht, fällt mit seinem Dialekt immer wieder auf – unter anderem wegen lautlichen und grammatikalischen Besonderheiten.

Besonders auffällig ist, dass man im Senslerdeutschen zwei grammatische Formen (den Inchoativ und den Vorgangspassiv) mit «kommen» statt mit «werden» bildet. Man sagt während der Ausbildung etwa «i chume Lehrer» statt «i wirde Lehrer». Oder «är isch verhaftet cho » statt «är isch verhaftet worde ».

Ein Randphänomen

Als senslerdeutschsprachige Person kommt man dafür auch schon mal schräg angeschaut – das weiss der Autor aus eigener Erfahrung.

Mitglieder der Einsatzgruppe Diamant der Kantonspolizei Zürich demonstrieren eine Verhaftung mit Handschellen.
Legende: Eine Frage des Dialekts «Är isch verhaftet cho» oder «är isch verhaftet worde»? (Symbolbild aus einer Polizeiübung) Keystone / Michael Buholzer

Neben dem Senslerdeutschen verwenden auch Walliser- und Bündnerdeutsch traditionellerweise «kommen» statt «werden». Dort sind die «werden»-Formen allerdings drauf und dran, die «kommen»-Formen zu verdrängen – der Anpassungsdruck der anderen Dialekte und des Hochdeutschen ist mächtig.

Einfluss aus den Nachbarsprachen

Warum verwenden Senslerdeutsch, Walliserdeutsch und Bündnerdeutsch «kommen» statt «werden»? Diese Frage hat die Sprachwissenschaft noch nicht abschliessend geklärt.

Nahe liegt die Vermutung, dass «kommen» aus den romanischen Nachbarsprachen übernommen wurde. Denn: Alle drei Dialektgebiete grenzen an das romanische Sprachgebiet – Senslerdeutsch und Walliserdeutsch ans Frankoprovenzalische (Patois) und Bündnerdeutsch ans Rätoromanische.

Romanisch verwendet auch «kommen»

Und: In den romanischen Nachbarsprachen wird zumindest der Inchoativ, der eine Veränderung anzeigt, ebenfalls mit dem jeweiligen Wort für «kommen» gebildet.

Im Rätoromanischen der Surselva sagt man etwa « vegnir scolast» und im frankoprovenzalischen Patois von Évolène VS « venî réjàn» – beides heisst wörtlich übersetzt «Lehrer kommen ».

Zweifel am romanischen Einfluss

Einige Dialektforscherinnen und -forscher glauben aber nicht, dass der Einfluss der romanischen Nachbarsprachen für die «kommen»-Formen im Senslerdeutschen, Walliserdeutschen und Bündnerdeutschen verantwortlich ist.

Sie weisen darauf hin, dass «kommen» – genau wie «werden» – seit Urzeiten mit Veränderung verbunden ist. Und sowohl der Inchoativ als auch der Vorgangspassiv drücken ja eine Veränderung aus.

«kommen» zeigt in vielen Sprachen Veränderung an

Spuren der alten Verbindung von «kommen» und Veränderung findet man auch in hochdeutschen Ausdrücken wie «ins Schwitzen kommen» oder «zum Stehen kommen», die man auch mit «schwitzend werden» und «stehend werden» übersetzen könnte.

Und im Englischen, das mit dem Deutschen verwandt ist, wird der Inchoativ mit «be come » gebildet («to become a teacher») – auch da steckt das «kommen» drin.

Zukunft ungewiss

Vermutlich ist es eine Kombination, welche zu den «kommen»-Formen im Senslerdeutschen, Walliserdeutschen und Bündnerdeutschen geführt hat: Die uralte Verbindung von «kommen» und Veränderung sowie der Einfluss der romanischen Nachbarsprachen.

Wie lange wird sich diese grammatikalische Spezialität noch halten? Das hängt von den jeweiligen Dialektsprecherinnen und -sprechern ab. Behalten sie ihre Besonderheiten bei oder passen sie sich der Mehrheit an? Diese Frage wird wohl in den nächsten Jahrzehnten beantwortet kommen .

Radio SRF 1, «Dini Mundart», Freitag, 11.11.2022, 9:40 Uhr

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