Zum Inhalt springen

Mundart vs. Hochdeutsch Wie Schweizerdeutsch zur Nationalsprache wurde

Die Deutschschweiz teilt mit Deutschland eine gemeinsame Sprache. Aber die beiden Länder gehen fundamental anders mit Mundart und Hochdeutsch um. Während Deutschschweizer immer Mundart miteinander reden, hört man in Deutschland praktisch nur noch Hochdeutsch, jedenfalls in der Öffentlichkeit.

Dass die ursprünglich sehr ähnliche sprachliche Ausgangslage sich so auseinander entwickelte, hat viel mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu tun.

  Die Mundart schien dem Tode geweiht

Denn lange sah es auch in der Deutschschweiz nicht gut aus für die Mundart. Vor 150 Jahren waren viele Gelehrte in der Schweiz sehr pessimistisch: In 20 Jahren spreche kein Mensch mehr Schweizerdeutsch, soll der Zürcher Fritz Staub Mitte der 1870er Jahre einem Kollegen gegenüber gesagt haben. Er musste es wissen, denn Fritz Staub gehörte 1862 zu den Gründern des Schweizerischen Idiotikons (vgl. Box).

Schweizerisches Idiotikon

Box aufklappen Box zuklappen

Das Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache wurde aus dem Geist des Mundartpessimismus im 19. Jahrhundert geboren. «Auf keinem Boden schleicht das Verderbnis so heimlich und darum so sicher, wie auf dem unserer Mundarten», stand 1862 in einem Aufruf an die Bevölkerung, sich an der Sammlung aller Mundartwörter zu beteiligen.

Denn wenn der Reichtum der lokalen Mundarten schon verloren gehe, so solle er doch wenigstens gründlich dokumentiert werden. Die Mundarten haben sich seither verändert, aber überlebt. Das Idiotikon auch: Nach 160 Jahren ist die heutige Redaktion beim Buchstaben Z angelangt und wird in den kommenden Jahren den 17. und letzten Band abschliessen. Es ist kein Denkmal geworden, aber ein unermesslicher Wort-Schatz des Schweizerdeutschen.

Hochdeutsch war im Vormarsch

Wir wissen heute, dass es anders gekommen ist. Im 19. Jahrhundert gab es aber gute Gründe für den verbreiteten Mundartpessimismus. Noch um 1850 hielt man Predigten und Reden, führte man Gerichtsverhandlungen und Parlamentsdebatten vorwiegend auf Mundart. 50 Jahre später sprach man in diesen Situationen normalerweise Hochdeutsch.

Hochdeutsch in der Schule

Seit 1874 galt die allgemeine Schulpflicht und Hochdeutsch war Pflichtfach. Denn Lese- und Schreibkompetenz wurden immer wichtiger in einer zunehmend komplexeren Welt, in der die Industrialisierung wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen rasend schnell vorantrieb.

Vorbild Deutschland

Deutschland war bis zum Ersten Weltkrieg in vielen Dingen ein Vorbild. Entsprechend galt Hochdeutsch auch in breiteren Bevölkerungsschichten als schick, gelehrt, weltmännisch. Besonders im Norden und Osten der Deutschschweiz und besonders in den Städten begannen offenbar immer mehr Einheimische, im Alltag Hochdeutsch miteinander zu sprechen – ähnlich wie schon seit längerem in Deutschland.

 Diese positive Haltung gegenüber Deutschland und dem Hochdeutschen änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, mit dem Aufstieg der Nazis und mit der Abgrenzung gegen den grossen Nachbarn im Zuge der geistigen Landesverteidigung.

Mundart zur Abgrenzung und Identitätsstiftung

Aber die Mundart war schon lange vorher politisiert worden und ist zum Symbol für die Eigenart und Eigenständigkeit der Schweiz geworden. Im frühen 19. Jahrhundert schrieb etwa der Thurgauer Theologe Johann Kaspar Mörikofer, die Mundart wahrt «die volksthümliche Gränze und gewährt uns die gehörige Umschlossenheit» – also Abgrenzung gegen aussen, Identitätsstiftung nach innen.

Streit um den Wert der Mundart

Zwar herrschte in der Schweiz ein regelrechter Gelehrtenstreit. Auch hier bezeichneten nicht wenige die Mundart als roh und ungeschliffen, ja als verderbtes Hochdeutsch – ein Hindernis für die Kultivierung und Höherentwicklung einer Nation. Dieser Grundhaltung wegen gilt Mundart in Deutschland bis heute als Symbol für Unbildung.

Mundart wird zum Symbol für die Nation

Aber in der Deutschschweiz setzte sich schliesslich die positive Grundhaltung durch. Hier stand Mundart je länger desto mehr für das Ursprüngliche, Natürliche und besonders für das «Eigenthümliche». Gerade im Umfeld der gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit, als Menschen massenhaft in die Städte und in die Fabriken zogen, sich entwurzelt und entfremdet fühlten, konnte die Mundart zum Symbol für das Heimatliche werden und so auch zum Symbol für die Nation schlechthin.

Buchtipp

Box aufklappen Box zuklappen

Zum Thema «Schweizerdeutsch und Nationalbewusstsein» ist vor kurzem ein äusserst spannendes Buch herausgekommen:
Emanuel Ruoss, Juliane Schröter (Hg.): Schweizerdeutsch – Sprache und Identität von 1800 bis heute (Schwabe Verlag 2020)

Viele Fakten und alle Zitate im Artikel stammen aus diesem Buch.

Radio SRF 1, 1. Oktober 2021, 9:40 Uhr

Meistgelesene Artikel