Mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind vor 700 Jahren die ersten Bewohner aus dem Obergoms im Wallis in Richtung Süden und Osten ausgewandert. Vielerorts sind Sie bis heute geblieben.
Heute breche ich auf, um auf dem Weg der Walser Ruhe und meine eigenen familiären Wurzeln zu finden. Dabei habe ich neben einer atemberaubenden Naturkulisse viele interessante Menschen getroffen und bin zu neuen Erkenntnissen über mich und das Wandern gekommen.
Meine Wanderung auf dem Walserweg
Etappe 1-4: Kamele und Überraschungen auf dem Walserweg
Im Dorf San Bernardino an der heute zweitwichtigsten Nord- Süd Verbindung starte ich meine Wanderung. Ich bin positiv überrascht. Noch nie bin ich hier ausgestiegen. Da öffnet sich ein Dorf hinter der Tankstelle und der Toiletten- Anlage direkt beim Tunnelportal. Von der Kioskfrau werde ich mit einem freundlichen «Buongiorno» begrüsst.
Die tägliche Street Parade von Hinterhein
Auf der anderen Seite des Passes in Hinterrhein treffe ich auf viele Ziegen. Berühmte Ziegen. Ein Teil der Herde soll beim jüngsten «Heidi»-Film mitgespielt haben. Noch heute werden in Hinterrhein um acht Uhr morgens die Ziegen auf dem Dorfplatz gesammelt, um dann mit dem Hirten durch das Dorf hinauf Richtung Pass zu laufen. Pünktlich um sechs Uhr abends trotten sie dann gemeinsam wieder auf den Dorfplatz. Der Hirt, von allen einfach «der Deutsche» genannt, sei vor rund acht Jahren einfach aufgetaucht und geblieben, erzählt mir mein Gastgeber. Seither mache er diese Arbeit jeden Sommer für vier Monate. Er selber würde das nicht aushalten. Ich, der Radiojournalist, wäre wohl auch kein guter «Geissenpeter».
Ein Stück Heimat
In Vals treffe ich Alois. Er ist der Alphirt der Zerveila am gleichnamigen Stausee. Dort, wo heute Wasser ist, stand früher eine der ersten Walsersiedlungen, das Dorf Zerveila. Er zeigt hinauf zum Wahrzeichen der Region, dem Zerveilahorn, das auf jeder grossen Valserwasser-Flasche zu sehen. Ich finde das Horn sieht dem Matterhorn in Zermatt verdammt ähnlich. «Ja genau», entgegnet mir Alois, darum seien die Walser schlussendlich auch hier geblieben. So lange unterwegs und dann am Schluss wieder am Matterhorn. Da verging manch einem die Lust weiter zu wandern. Alois ist ein guter Geschichtenerzähler.
Trampeltiere auf dem Walserweg
Im Safiental treffe ich dann auf zwei Kamele. Die Tiere gehören zur Familie von Angelika Bandli und sind deren Schmusetiere. Sie werden also weder auf dem Bauernhof noch für den Tourismus eingesetzt. Sie werden sofort meine neuen Freunde. Ich lerne jedoch: Kamele, respektive Trampeltiere, können auch ausschlagen. Nicht nur nach vorne oder nach hinten, sondern auch seitwärts.
Faszinierend, was uns die Walser hinterlassen haben. Gerade die Gebäude, die je nach Tal mit den Materialien gebaut wurden, die man dort angetroffen hat. In Mutten und Obermutten war vor allem Holz vorhanden. Die Dorfkirche ist die höchstgelegene der Schweiz. Im Avers gab es viele Steine. Die Dächer sind dort mit Steinplatten bedeckt.
Die Niagarafälle am Walserweg
In der Rofflaschlucht bei Andeer komme ich an einer Beiz vorbei. Zum Glück kehre ich ein und entdecke so hinter dem Haus eine mir bis anhin unbekannte Sehenswürdigkeit. Christian Pitschen-Melchior, der damals junge Sohn des Wirtepaars, sah vor über 100 Jahren in Amerika, dass Menschen für das Bestaunen eines Wasserfalles Geld bezahlten. Zurück in der Heimat haute er von Hand eine Felsengalerie in den Stein, damit Gäste bis zu den Roffla-Wasserfällen spazieren können. Der Eintritt von fünf Franken lohnt sich.
Alte Wunden der Walserherzen
Im Avers treffe ich auf Robert Heinz. Er ist Averser, Bergbauer, ehemaliger Politiker, Chronist und ganz wichtig: Walser. Durch und Durch. Ich darf einen Menschen kennen lernen, der noch viel vom Pioniergeist der alten Walser besitzt. Als ich ihn Frage, wo er denn sonst noch leben könnte, antwortet er: «Die Bündner Herrschaft würde ihm noch gefallen, einfach nicht zu Nahe bei den Rätoromanen.» Warum? Die hätten schon früher den Walsern nur die am härtesten zu bewirtschaftenden Gebiete in Graubünden überlassen. Aha. Dieses Fass mache ich an diesem Abend nicht mehr auf.
Etappe 10-12: Grenzen erkennen auf dem Walserweg
Über Juf, das höchstgelegene ganzjährig bewohnte Dorf der Schweiz, wandere ich weiter. Via die Alp Flix und die Ela-Hütte geht es bis Filisur. Ich komme hier zum ersten Mal an meine Grenzen. In vielen Dingen bin ich zu schnell: Beim Essen, Trinken, Antworten, Autofahren, aber eben auch beim Wandern. Bei einer angegebenen Wanderzeit von rund sieben Stunden verteilt auf 19 Kilometer habe ich die Höhenkurven von 1400 Höhenmetern vollständig vernachlässigt. Die Quittung kommt am Folgetag. Auf der vermeintlich lockeren Etappe nach Filisur fühlen sich meine Beine an wie Blei.
Altes Walserhandwerk
Mein Weg führt immer wieder an verlassenen Walser-Ställen vorbei. Viele werden von den Bauern heute nicht mehr genutzt und drohen zu verfallen. Ich erinnere mich an Jakob Gartmann, den ich im Safiental traf. Der ehemalige Posthalter ist heute Schindelmacher. Er restauriert alte Häuser und produziert Schindeln wie eh und je. Ein Schindeldach aus Fichtenholz hält 50-70 Jahre. Im ehemaligen Postbüro hat Jakob Gartmann heute seine Werkstatt. Schon beim Einspannen des Fichtenholzes schaffe ich es, mir einen Holzsplitter im Finger einzufangen, mache aber tapfer weiter.
Etappe 13-19: Sprachliche Vielfalt entlang des Walserwegs
Der Weg von Filisur bis nach Klosters führt mich durch das romantische Albulatal, durch die Landschaft Davos und über Arosa. Unter anderem wandert man hier an ehemaligen Erzgruben und grossen «Wasserspychern» vorbei.
Wer nutzt eigentlich die Wanderwege?
Dieser Gedanke kommt mir nicht zum ersten Mal. Am meisten werden Wanderwege in den Bergen von Kühen, Schafen, Ziegen, allenfalls noch von umgeleiteten Wasserläufen und nicht selten von Bikern genutzt. Nur nicht von den Wandernden. Ich treffe auf der ganzen Weitwanderung lediglich vier andere Wanderer. In den aufgeweichten, mit Wasser gefüllten Tierfusstritten, ist es aber auch fast unmöglich vorwärts zu kommen. Warum aber nur spaziert das liebe Vieh am liebsten auf den Wanderwegen? Entweder Tiere lieben das bequeme Vorwärtskommen oder sie ärgern uns Menschen bewusst.
Sprachliche Vielfalt
Auf diesem Abschnitt fällt mir einmal mehr auf, wie sich auch die Sprache der Walser fast in jeder Walserfraktion unterscheidet . Haben die Walser im Rheinwald noch von «proche» für gebrochen gesprochen, sagt man hier in der Landschaft Davos und dem Prättigau «gebroche» zum gleichen Wort. Oder «trunke» für trinken. Im Prättigau wird es zu «getruuche» und das junge Rind wird zum «Jäärlig».
Etappe 20-23: Walser kannten keine Grenzen
Der Abschluss der Wanderung führt mich von Klosters nach St. Antönien, vorbei am Partnunsee. Der Übergang von der Schweiz nach Österreich führt über das das markante Schweizertor im Kletterparadies des Rätikons.
Ein Leben mit Lawinen
St. Antönien, sozusagen , der Hauptweiler der verstreuten Walserfraktion, ist von Hügeln und Bergen umgeben, von denen sich im Winter regelmässig Lawinen lösen. Viele der Häuser liegen noch heute in den Ausläufen ehemaliger Lawinen. Nach den Unglücken im vergangenen Jahrhundert wurden sie einfach wieder aufgebaut. Viele ältere Leute hätten aber noch heute jeden Winter Angst vor der nächsten Lawine, erzählt mir Irene Schuler, die Initiantin des Walserweges. Dies, obwohl heute über dem Dorf eine der grössten Lawinenschutzüberbauungen der Schweiz steht.
Endspurt, respektive nochmals innehalten.
Wenn auch Sie zu den Weitwanderer gehören, dann kennen Sie den Schmerz, der den Wanderer kurz vor dem Ziel befällt: Der Schmerz vom Abschied. Bald ist es vorbei. Habe ich auch wirklich alles verwirklicht, was ich vorhatte? Die Antwort lautet meistens Nein. Ich bin nicht stundenlang barfuss gelaufen, war nicht baden im Bergsee und habe nicht stundenlang den Kühen beim Fressen zugesehen. Ich habe einmal mit dem Postauto abgekürzt, einmal Schnipo bestellt, mich sonst aber vom Essen überraschen lassen. Eines aber habe ich auf dieser Wanderung definitiv erreicht: Ich habe tolle Menschen getroffen, habe Einladungen angenommen, zugehört, gelacht und gestaunt. Ich habe knapp 300 Kilometer und 12'000 Höhenmeter zurückgelegt. Ich bin glücklich und stolz, diesen Weg erwandert zu haben.
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