Vor ein paar Tagen drangen russische Kampfjets in den Luftraum von Nato-Staat Estland ein. Das baltische EU-Land teilt seine östliche Grenze mit Russland. Provokationen des Nachbars sind keine Neuheit. Und doch: Die Vorfälle von vergangenem Freitag verunsichern.
Was bedeutet diese Entwicklung für das tägliche Leben in Estland – und wie ist die Stimmung unter den Leuten? Daniel Nef ist Auslandschweizer, lebt mit seiner Familie im Baltikumstaat und berichtet, wie er den Alltag in Bezug auf die aktuelle Sicherheitslage miterlebt.
SRF: Wie ist momentan die Stimmung bei den Leuten in Estland?
Daniel Nef: In Estland ist das Sicherheitsempfinden im Allgemeinen sehr hoch. Die Kriminalität ist tief. Gleichzeitig sind solche russischen Provokationen nicht wirklich neu.
Bei den älteren Generationen ist eine gewisse Angst präsent. Man fürchtet die politische Situation, wie sie vor 1991 war, als das Land noch zur Sowjetunion gehörte.
Seit Jahren fliegen immer mal wieder russische Kampfflugzeuge über Estland. Man hat sich beinahe schon etwas daran gewöhnt. Die Leute lassen sich nicht allzu fest davon verunsichern.
Was macht den Leuten am meisten Angst?
So wie ich das in meinem Umfeld wahrnehme, ist es nicht die unmittelbare militärische Bedrohung durch Kampfflugzeuge oder Drohnen, die beunruhigt. Am meisten Angst macht die längerfristige Ungewissheit darüber, was passiert, falls es nicht gelingt, die russische Aggression einzudämmen. Viel darüber gesprochen wird aber nicht. Es ist ein Szenario, das sich niemand wirklich vorstellen möchte
Wie präsent ist das Thema in Ihrem Bekanntenkreis und in den estnischen Medien?
Es beschäftigt die Leute schon. Aber eben: Es ist kein komplett neues Phänomen. Ich glaube, es wird auch bewusst nicht allzu sehr in den Vordergrund gerückt. Es ist wichtig, dass das Leben weitergeht.
Die Integration der russischstämmigen Menschen ist eine der grossen Herausforderungen Estlands.
Und doch: Bei den älteren Generationen ist schon eine gewisse Angst präsent. Man fürchtet die politische Situation, wie sie vor 1991 war, als das Land noch zur Sowjetunion gehörte.
Die alte und die junge Generation geht also unterschiedlich mit der Situation um?
Das ist meine Wahrnehmung, ja. Die Generation meiner Schwiegereltern hat einen anderen Erfahrungshintergrund. Die jüngere Generation ist in einem Land mit vielen Freiheiten aufgewachsen und geht etwas anders damit um.
Ein Fünftel der Bevölkerung in Estland ist russischstämmig. Gibt es Misstrauen?
Die Integration der russischstämmigen Menschen ist eine der grossen Herausforderungen Estlands. Das kleine Land kann es sich nicht leisten, 20 Prozent der Bevölkerung nicht zu integrieren. Das ist ein laufender Prozess. Gleichzeitig ist Russland der grosse Feind im Osten.
Wie sind die Reaktionen aus der Schweiz? Ich habe den Eindruck, wir nehmen die Situation hier beinahe bedrohlicher wahr als Sie in Estland?
Aus estnischer Sicht hat sich das Sicherheitsgefühl nicht stark verändert. Ich denke, es ist eher das Bewusstsein in der Schweiz und im restlichen Europa, das sich verändert. Es ist sicher nicht schlecht, wenn das Bewusstsein steigt, dass diese Bedrohungslage für uns schon länger Tatsache ist.
Das Gespräch führte Michael Brunner.