Ein weiteres Mal wollte Polen die Verletzung seines Luftraums durch Russland nicht einfach hinnehmen. Und schoss erstmals mehrere Drohnen ab. Regierungschef Tusk wirft Moskau einen «Akt der Aggression» vor. Zwar geht vorläufig niemand davon aus, dass Moskau Polen militärisch angreifen wollte. Doch die Nato provozieren und testen, das schon.
Dass sich mal eine russische Drohne oder Rakete verirrt und in den Luftraum eines Nato-Landes eindringt, das kann passieren. Dass es aber immer wieder passiert und angeblich stets irrtümlich, leuchtet weniger ein. Zumal es seit dem russischen Überfall auf die Ukraine immer wieder zu solchen «Verirrungen» kommt. Und nicht nur in Polen, sondern auch in andern Nato-Ländern. Und dass es sich diesmal gar um eine Vielzahl von Drohnen gehandelt hat und der Vorfall gar stundenlang dauerte, das ist schon bemerkenswert.
Der Vorfall zeigt: Die Nerven liegen blank
Zumal die Dementis aus Moskau, wie schon oft in der Vergangenheit, vielschichtig und widersprüchlich sind. Mal heisst es, die Navigation sei gestört gewesen, weshalb die Drohnen ohne jede Absicht nach Polen gelang seien. Mal wird behauptet, es habe sich gar nicht um russische Drohnen gehandelt.
Der Vorfall beunruhigt. Anfänglich war sogar davon die Rede, nun müsse der Nato-Bündnisfall ausgerufen werden, denn Polen sei angegriffen worden. Das ist, nach allem, was man bisher weiss, übertrieben. Doch die grosse Besorgnis in Polen ist so offenkundig wie verständlich. Weshalb die Regierung nun Artikel 4 der Nato-Satzung anruft und Konsultationen innerhalb der Allianz verlangt. Es zeigt, wie blank die Nerven liegen. Und dass die Sache früher oder später doch zu einem Fall für das ganze Bündnis werden könnte.
Die plausibelste Erklärung für die bisherigen kleineren und den aktuellen grossen Zwischenfall ist, dass die Kreml-Führung die Nato provozieren und testen will. Reagiert sie? Wie heftig? Wie schnell? Wie gut? Das liefert Russland Erkenntnisse. Erstens über die militärischen Fähigkeiten der westlichen Allianz und zweitens über die politische Bereitschaft, Moskau die Stirn zu bieten. Interessant ist es auf jeden Fall.
Signal von Anchorage: Der Kreml darf tun, was er will
Dazu kommt, dass der russische Staatschef Putin momentan geradezu aufgepumpt ist vor Selbstbewusstsein. Das hat mit zwei Adrenalinschüben zu tun, die er in jüngster Zeit erhalten hat. Den ersten gab ihm US-Präsident Donald Trump, indem er Putin freundschaftlich und auf Augenhöhe in Alaska willkommen hiess. Trump erfüllte damit einen Herzenswunsch Putins und bekam als Gegenleistung rein gar nichts. Ganz offensichtlich hat Putin seither jeden Respekt vor Trump verloren und vor allem jegliche Angst, dass der unberechenbare Herr im Weissen Haus gegenüber Russland mehr tun wird als gelegentlich Drohungen zu äussern, die er dann nie in die Tat umsetzt. Das Signal von Anchorage, gemäss Kreml-Lesart, lautet: Man kann in und gegenüber der Ukraine mehr oder weniger tun, was man will.
Die zweite Potenzspritze versetzte dem russischen Diktator sein Besuch in China auf dem Gipfeltreffen der Schanghai-Kooperationsorganisation und die Rückenstärkung, die er dort von seinen Autokratenfreunden erfuhr. Allen voran von Chinas Präsident Xi Jinping. Sie stehen stramm hinter Moskau.
Putin fühlt sich daher stärker denn je. Bisher beweist ihm niemand das Gegenteil. Das sind miserable Nachrichten für die Ukraine. Und bedrohliche für Europa. Momentan spricht wenig dafür, dass sich die Eskalationsspirale nicht weiter und weiter dreht.